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115Newtonaneignung
im katholischen Milieu
Lehramt Rechnung, während die empirische Naturforschung die sinn-
lich wahrnehmbaren Gesetzmäßigkeiten des relativen Sternenraums
protokollierte und so das menschliche, heliozentrische Weltbild bestä-
tigte. Die Insassen des Universums konnten die Bewegung ihres Kos-
mos innerhalb des absoluten, von Gott überblickten Raums nicht er-
fassen; aus eben dieser Beschränktheit machte Bošković eine Tugend,
indem er den Standpunkt Gottes ex nihilo aus der wissenschaftlichen
Weltbetrachtung in einen dem Menschen unzugänglichen absoluten
Raum auslagerte. 1757 fiel schließlich unter Benedikt XIV. das kirch-
liche Lehrverbot, mit dem der Heliozentrismus belegt gewesen war.143
Wenn man die maria-theresianische Epoche überblickt und die
bisherigen Ergebnisse zu sortieren versucht, dann gelingt es, diese
Erträge im Lichte ihrer langfristigen Bedeutung für Spätaufklärung
und Restauration auszuwerten. Somit lässt sich folgendes Zwischen-
resümee formulieren: Die Schulphilosophie, die sich seit der Verdrän-
gung der Scholastik in den habsburgischen Ländern etablierte und
über die Aufhebung des Jesuitenordens hinaus die Universitäten der
Monarchie dominierte, legte den Grundstein für die säkularisierte,
liberale Naturerkenntnis des Vormärz. Bošković fügte 1763 seiner
Erzbischof Migazzi gewidmeten Naturphilosophie einen Appendix
ad Metaphysicam pertinens de anima, et de Deo bei, der rein topisch
blieb: Die Existenz der Seele galt ihm als Sache der inneren Erfahrung,
damit wurde die natürliche Theologie gegenüber der Naturphiloso-
phie provinzialisiert, ihre Gegenstände erforderten moralische und
politische Erwägungen, gehörten aber nicht mehr in das Feld reiner
Naturerkenntnis.144 Dreißig Jahre später, im Jahr 1793, lieferte An-
ton Kreil, Wiener Freimaurer und Professor in Pest, der kurz darauf
im Zuge der Jakobinerprozesse in Ungarn seinen Lehrstuhl verlieren
sollte, eine rückblickende Betrachtung des Wissenswandels in den
habsburgischen Ländern. In seiner Biografie des Jesuitenphysikers Pál
Makó hob Kreil damals hervor, dass die kirchliche Schulphilosophie
als Katalysator für Denkstil, Methoden und Problemstellungen der
modernen Naturerkenntnis gewirkt habe: So seien weitgehend auf
traditionell-kirchlichem Boden stehende Denker, die jede Religions-
143 Ugo Baldini, Teoria boscovichiana, newtonismo, eliocentrismo. Dibattiti
nell Collegio Romano e nella Congregazione dell’Indice a metà Settecento,
in: Saggi sulla cultura della Compagnia di Gesù (secoli XVI-XVIII), Padova
2000, 281-347.
144 Paul R. Blum, Natürliche Theologie und Religionsphilosophie im 17. und
18. Jahrhundert. Théophile Raynaud, Luis de Molina, Joseph Falck, Sig-
mund von Storchenau, in: OK-CHAM 49 (2004), Nr. 186-187, 5-16, 13.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513