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116 Die katholische Aufklärung
aufklärung erbittert bekämpften, zu Bahnbrechern der Naturfor-
schung geworden.145
Was Kreil im Rückblick beschrieb, war die Entkoppelung der Na-
turerkenntnis von der Gotteserkenntnis. Sie vollzog sich auf der Ebene
der Wissenschaftspragmatik, in den Rochaden der Lehrkanzelbeset-
zungen während der Studienreform ebenso wie forschungsstrategisch,
im Bereich der Erkenntnisbemühungen. Die Aufhebung des Jesuiten-
ordens im Jahr 1776 und die Säkularisierung der Professuren für Phy-
sik sowie für Welt- und Naturgeschichte an den habsburgischen Uni-
versitäten bedeutete für die Theologie eine thematische wie personelle
Verengung und Verarmung.146 Die Voraussetzungen für die Trennung
von Gottes- und Welterkenntnis, hatten, wie Kreil 1793 notierte, die
Jesuitenmathematiker und -physiker der maria-theresianischen Epo-
che selbst geschaffen: Formelhafte Präludien über die Schöpfung und
weise Weltregierung paarten sich in ihren Werken mit der Absage an
die Erkenntnis letztgültiger Final- und Zweckursachen. Gerade diese
Ausgangsbedingungen sollten die liberale Naturforschung des Vor-
märz beflügeln. Für den Gottesbeweis reichte die wolffianische Non-
repugnanz, die Widerspruchsfreiheit, nicht mehr aus, die newtoniani-
sche Physik klammerte ihn ebenso aus, so wurde er zur Leerstelle: Die
Aufgabe, eben diese Leerstelle zu füllen, schob im josephinischen und
franziszeischen Wissenschaftssystem jede Disziplin mit Vorliebe den
anderen Fächern zu, die Metaphysiker reichten sie an die Moralisten
weiter, die Moralisten traten sie gerne an die Theologen ab.147
145 Anton Kreil, Einige Züge aus dem Leben und dem Charakter des nunmehr
verewigten Paulus Mako […], Pest 1793, 10-11; Werner Sauer, Österreichi-
sche Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration. Beiträge zur Ge-
schichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie, Amsterdam 1982,
43-44, zu Kreil ebda., 267-271, 274. Nach der Zwangspensionierung arbeitete
Kreil in der Buchhandlung seines ehemaligen Logenbruders Alois Blumauer
in Wien, wo er 1833 starb.
146 Allgemein Hermann Zschokke, Die theologischen Studien und Anstalten
der katholischen Kirche in Österreich, Wien 1894, 13-30; Wappler, Ge-
schichte der Theologischen Fakultät, 226-228; Emil Clemens Scherer, Ge-
schichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten. Ihre An-
fänge im Zeitalter des Humanismus und ihre Ausbildung zu selbständigen
Disziplinen, Freiburg 1927, 343-390.
147 Vgl. Karl von Zinzendorfs Staatsratsvotum von 1795 über die Amtsenthe-
bung der Kantianer Kreil und Johann Nepomuk Delling in Ungarn: »Was
hat doch Metaphysik mit der geoffenbarten Religion gemein? […] Wenn
ein ehrlicher Mann, er heiße Kant Deling, Kreil etc. […] kommt und be-
scheiden eingestehet, der menschliche Verstand ist viel zu blöde, um Got-
tesdasein, den Zustand der Seele jenseits des Grabes a priori NB. a priori
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513