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119Newtonaneignung
im katholischen Milieu
menster Gottesdienst. Bündig formuliert hat dieses Weltbild der
vormärzliche Physiker und Staatsmann Andreas von Baumgartner,
dessen Naturlehre von 1823 an den habsburgischen Universitäten über
Jahrzehnte als vorgeschriebenes Lehrbuch diente. Baumgartner avan-
cierte als Sohn eines freigelassenen Leibeigenen aus Südböhmen, der
sich als Dorfbäcker und Gastwirt in Friedberg (Frymburk) eine be-
scheidene Existenz aufgebaut hatte, zum Präsidenten der Kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften.154 Die Praxisrelevanz des Wissens über
die Natur stellte Baumgartner als Koordinator des Eisenbahn- und
Telegrafenbaus in der Monarchie ebenso unter Beweis wie als Direk-
tor der erbländischen Tabakregie und Porzellanmanufakturen, zudem
hielt er populäre Vorlesungen und wissenschaftliche Übungen für alle
Stände.155 Baumgartner erfasste die newtonianische Kosmologie des
Biedermeier folgendermaßen:
Größer aber als alles Große in der materiellen Natur ist die un-
verrückbare Gesetzmäßigkeit in allen Naturerscheinungen und das
innige Ineinandergreifen auch der kleinsten Zähne des großen Uhr-
werks. Seit dem Tage der Schöpfung besteht das Maß von Kräften
unverändert fort, welches der Allmächtige seinem Werk als Weg-
zehrung auf die lange Lebensreise mitgegeben hat, wenn auch in
verschiedenen Formen und nach verschiedenen Wirkungsweisen.156
So konnte der von den maria-theresianischen Schulphilosophen einge-
meindete Newtonianismus den Grundstein für die liberale Naturfor-
schung des Vormärz bilden. Dass die Newtonianer keine allgemeinen
Prinzipien aufstellten, welche Ursachen auf innere Eigenschaften, ver-
borgene Wirkabsichten und höhere Zwecke zurückführten, hatte bei
den älteren katholischen Naturforschern für Missbehagen gesorgt; eben
154 Anton von Schrötter, Andreas Freiherr von Baumgartner. Eine Lebens-
skizze, Wien 1866, 11.
155 Alois Kernbauer, Beckmann und der »technologische« Unterricht an den
Universitäten der Habsburgermonarchie. Der »technologische« Unterricht
im Kanon der Allgemeinbildung der Philosophischen Fakultäten, abseits der
Polytechnika und Fachlehranstalten, in: Günter Bayerl, Jürgen Beckmann
(Hg.), Johann Beckmann (1739-1811). Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung
des Begründers der Allgemeinen Technologie, Münster 1999, 203-216, 215.
156 Andreas von Baumgartner, Das Große und das Kleine in der Natur, in:
ÖVWK 1860, 9. Zu Baumgartner knapp Franz Pichler, Andreas Baumgart-
ner und sein Werk »Naturlehre«, in: Hartmut Laufhütte, Alfred Doppler
u. a. (Hg.), Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Biographie –
Wissenschaft – Poetik, Tübingen 2007, 117-126.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513