Seite - 135 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Bild der Seite - 135 -
Text der Seite - 135 -
135Der
antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus
gen schon klar geworden. Lange hatte das Zweckbündnis zwischen
den katholischen Reformern und der landesfürstlichen Gewalt nicht
gehalten, allerlei Feindseligkeiten beherrschten das kirchen- und ge-
lehrtenpolitische Tagesgeschäft. Während der Regierungszeit Josephs
II. wurde der ältere Konflikt aus der maria-theresianischen Ära zu
einem Schaukampf gegen die Kirche. Die Funktion dieser plakativen
Auseinandersetzung erkannten vor allem jene Aufklärer, die Kritik
am Despotismus Josephs II. übten28 und seine Vergötzung scharf
kritisierten.29
Der Schriftsteller und spätere Kassier der galizischen Koscher-
fleisch-Aufschlagsdirektion Franz Kratter hat in seinen Philosophi-
schen und statistischen Beobachtungen von 1787 beschrieben, welche
Umwegrentabilität die Konfrontation mit der Kirche für Joseph II.
versprach. Zum einen, so Kratter, werde so das Neuartige der Re-
formen überbetont und die Fortführung der kirchenrechtlichen und
administrativen Grundsätze Maria Theresias verschleiert. Vor allem
aber liege die Bedeutung der Konfrontation mit der Kirche darin, dass
sie vom Fortbestehen des monarchischen Despotismus ablenke. Die
Untertanen, so Kratter, würden den Despotismus in Kauf nehmen,
solange die Kirche als Prügelknabe diene, deshalb sei es für die Regie-
rung förderlich, dass »der Volksbegriff der Aufklärung« so eng mit
religiösen Angelegenheiten verknüpft bleibe. Dagegen fragte Kratter
offen, ob »der Bürger mehr durch Misbräuche der Religion als der
28 Manch enttäuschter Aufklärer datierte den Beginn der Reformen auch auf
die Zeit Maria Theresias vor: »Nicht erst K. Jos. II. (wie allgemein geglaubt
wird), schon seine unvergessliche Mutter K. K. M. Theresia, die so viel für
die Aufklärung ihrer Völker, soviel für den Flor ihrer Länder getan hat, war
es, die das jesuitische Reformations- und Inquisitionssystem ihres Ahnherrn
K. Ferdinands II. verlassen hat. Schon sie fing im geheimen an, eine Toleranz
zu begünstigen […] Öffentlich schätzte und unterstützte sie die besser refor-
mierenden Arbeiten eines noch nicht gepurpurten Migazzi, der Van Swieten
u. Riegger, der Stock und Rautenstrauch etc. […]«, Johann Ferdinand Opiz,
Polygraphische Ephemeriden, Nr. 1290 [1790], zit. n. Johann Ferdinand
Opiz’ Autobiographie, hg. v. Ernst Kraus, Prag 1908, 58; Grete Klingenstein,
Modes of Religious Tolerance and Intolerance in Eighteenth-Century Habs-
burg Politics, in: AHY 24 (1993), 1-16.
29 Amand Berghofer, Schriften, 2. Aufl., Wien 1787, 196: »Lobet laut, indem
ihr heimlich verachtet! […] durch Biegsamkeit […] werdet ihr euren Karak-
ter schwächen, ganz Zucker, ganz Mohn werden; und wenn ihr einmal mit
grossen Vorwürfen zu thun habt, so wird euer Gemüth, das mit Verstellung,
auch Falschheit genährt ist, euch nichts Edles darstellen könen: eure Einbil-
dung, die durch lange Schmeichelei zerrüttet und entnervt ist, wird euch nur
schwache Wendungen, in Honig eingemachte Ausdrücke darbieten […].«
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513