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142 Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar
ausdrücken hören als in protestantischen Ländern nicht leicht ein
wohlgezogener Mensch sich erlaubt, den folgenden Sonntag un-
term Hochamte mit konvulsisch-andächtiger Miene auf den Knien
liegend, sich bekreuzen und auf die Brust schlagen sah. […] Bey
den Katholiken […] nimmt der Verstand, wenn ein Mensch von
Kindesbeinen an zum blinden Glauben abgerichtet worden, eine
wunderbare Wendung. Grundsätze können da nicht so fest haften,
als bey einem Menschen, der von Jugend zum Reflektiren und Dis-
ceptiren gewöhnt ist.50
Für die katholischen Aufklärer war die rituelle Frömmigkeit bloßer
Leerlauf, Schall und Rauch, sie lief der Religion, die sie propagierten,
zuwider: Der aufgeklärte Glaube war eine Anleitung zur individuellen
Selbsterforschung und sittlichen Läuterung der Gläubigen. Dagegen
erhoben die Anhänger der Restauration ab den 1790er Jahren die baro-
cke Pietas zur Panazee für Staat und Gesellschaft.
Der restaurative Klerus betrieb also die Erneuerung einer rituellen
Frömmigkeit, die er als Stütze des Patriotismus und der Loyalität ge-
genüber dem Monarchen pries. Viele Geistliche, die an den josephini-
schen Generalseminaren ausgebildet worden waren, warnten hingegen
vor der Demontage der Aufklärung im Glaubensleben, weil sie die
öffentliche Ruhe und Ordnung gefährde, ein Gutteil der Beamten-
schaft teilte diese Vorbehalte.51 In ihren Gutachten und Bescheiden
gegen die Renaissance der rituellen Frömmigkeit griffen die Beam-
ten auf Versatzstücke aus der Spätaufklärung zurück. So wiesen sie
etwa auf Vergeudung wertvoller Arbeitskraft hin: Nützliche Zeit, die
an der Werkbank für das Gemeinwohl verwendbar sei, werde hier
verschwendet, das Familienvermögen für fromme Vermächtnisse ver-
prasst, dazu komme das bekanntlich alles andere als wohlanständige
Betragen der Pilger. Hier lesen sich die Akten mitunter wie Nach-
50 Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland, V, 1785, 12-13. Zu
Nicolais konfessionspolemischer Sicht auf den katholischen Raum vgl.
York-Godehard Mix, »Lucri bonus odor« oder wie aufgeklärt war Fried-
rich Nicolai? Konstituenten kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung
in den Reiseberichten über Franken von Nicolai, Wackenroder und Tieck,
in: Rainer Falk, Alexander Košenina u. a. (Hg.), Friedrich Nicolai und die
Berliner Aufklärung, Hannover 2008, 339-358.
51 Leider fehlen verlässliche prosopografische Studien über die Karriereverläufe
der an den Generalseminaren ausgebildeten Priester, es liegen aber einige
autobiografische Skizzen ehemaliger Absolventen vor, vgl. etwa [György
Fejér,] Visszaemlékezés a posoni közönséges papnevelő házra [Erinnerungen
an den Besuch des Preßburger Priesterseminars], in: RN (1846), 316-317.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513