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146 Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar
Das erste heiligste Bedürfniß des Menschen ist die Erkenntniß der
Offenbarung Gottes und seiner eigenen Geschichte. [Daher die
Mythe über die Geburt, den Unterricht, das Gedeihen, das Leiden,
den Tod, die Unsterblichkeit des Menschen in der Geschichte Jesu
(eine heilige Anthropologie).]64
Kübecks Tagebücher dokumentieren eine persönliche, sittlich gefärb-
ten Frömmigkeit. Inwiefern vermochte nun der restaurative Klerus
eine Sozialdiagnose des bürgerlichen Glaubens zu liefern und dieselbe
zu verarbeiten? Die Sozialanalytiker im Klerus des frühen 19. Jahr-
hunderts lagen nicht falsch, wenn sie die Prägekraft der Aufklärung
auf sozioökonomische Wurzeln zurückführten: Die Berufsidentität,
das Erwerbs- und Leistungsprofil der Bürger reduzierte die Bedeu-
tung der religiösen Selbstidentifikation,65 im Rahmen der Moralisie-
rung und Internalisierung der Religion begann sich der Glaube immer
mehr zur Privatangelegenheit zu wandeln, die man auf die Sphäre des
Gefühlshaushalts und der heimischen Praxis festlegte:66 Eingeübte
Muster berufsgeprägter sozialer Interaktion wurden auf das sacrum
commercium, das erlösungsrelevante Heilsgeschehen zwischen Gott
und den Gläubigen übertragen.67
Das Dilemma des restaurativen Klerus bestand darin, dass er die
Aufklärung weder theologisch noch sozial rückgängig machen konnte
und sich zugleich an jene Bevölkerungsschicht richten musste, die er als
Produkt der aufklärerischen Säkularisierung und »Entchristlichung«
betrachtete: an das Bürgertum. Eben diesem politisch unberechenba-
ren Stand sollte ja, im Sinne des beschworenen Bündnisses von Thron
und Altar, besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Der »Moderne«
hatte der restaurative Klerus nichts entgegenzusetzen, das nicht ebenso
Produkt einer im Umbruch begriffenen Welt gewesen wäre.68
Das zeigt sich in besonderer Schärfe an der Sozialdiagnostik: Die
von der restaurativen Geistlichkeit ausgiebig beklagte »Entchristli-
64 Ebda., 85 (Mai 1802).
65 Lothar Gall, Vom Stand zur Klasse. Zur Entstehung und Struktur der mo-
dernen Gesellschaft, in: HZ 261 (1995), 1-21, 5-6; Weinzierl-Fischer, Visita-
tionsberichte, 292-293 (mangelnde Frömmigkeit der Beamtenschaft, beson-
ders in den Diözesen Laibach, Lavant, Görz, Brünn, Budweis und Linz).
66 Edith Saurer, Frauen und Priester. Beichtgespräche im frühen neunzehnten
Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Ei-
gensinn, Frankfurt a. M. 1990, 141-170.
67 Schlögl, »Aufgeklärter Unglaube« oder »mentale Säkularisierung«?, 112.
68 Otto Weiß, Wie ultramontan war Klemens Maria Hofbauer? Überlegungen
anläßlich einer neuen Hofbauer-Biographie, in: SHCSSR 93 (1992), 41-98, 68.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513