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151Restaurative
Geschichtspolitik und Sozialdiagnose
der Geschlechterrollen, indem sie die empfindsamen Konnotate weib-
licher Fürsorge und Gefühlstiefe mit dem familiären Privatraum ver-
knüpfte.88 Das aufklärerische Konzept der Öffentlichkeit, in welcher
der Familienvater für das Gemeinwohl wirkte, spielte hier keine Rolle
mehr, umso mehr aber das Wunschbild der Frau als Garantin religiö-
ser Gesinnung und familiärer Ordnung.89 So beschrieb der restaurative
Klerus das berufsständisch gegliederte, »entchristlichte« Bürgertum
als soziales und intellektuelles Resultat der Aufklärung, federte aber
zugleich publizistisch und seelsorgerisch die Etablierung eben dieses
Wirtschaftsbürgertums ab, das durch die allmähliche Freigabe von
Binnenmärkten, Berufswahl und Produktionsformen entstand.
Das »Bürgertum« blieb dabei ein unbekanntes Wesen, in der Va-
rianzbreite seiner politischen Ideale entzog es sich hartnäckig zeitge-
nössischen Zuschreibungen: Die staatspädagogische Frömmigkeit der
Restauration verband Glaube, Patriotismus und Familiensinn,90 wäh-
rend die liberale Broschürenliteratur des Vormärz das Bürgertum als
Trägerschicht des Fortschritts und als ökonomisch-politisches Fun-
dament des Staates beschrieb. So sehr sich die restaurativen und libe-
ralen Vorstellungen von der Sozialmoral und vom Gefüge der Familie
überschnitten, so konträr waren die politischen Schlussfolgerungen,
die man aus diesen gemeinsamen Wertgehalten zog.91 Die politische
Funktion der einhellig betonten »Sittlichkeit« wurde diametral be-
wertet: Für die restaurative Geistlichkeit verbürgte sie »Ruhe« und
Anhänglichkeit der loyalen »Gutgesinnten«, während im liberalen
Jargon der Zeit eben diese Gutgesinnten den ökonomisch-politischen
Fortschritt, die Pressefreiheit und die staatsbürgerliche Gleichheit
herbeiführten.
Diese Konvergenz gesellschaftlicher Leitbilder diente zudem dazu,
die Eigentumslinie als Schranke zwischen Berechtigten und Entrech-
teten zu stabilisieren: Die Heilsverheißung einer harmonisch-hierar-
chischen Gesellschaft von Herren und Schutzbefohlenen wirkte als
88 Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtercharaktere« – eine Spie-
gelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze
(Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976,
363-393; Anthony La Vopa, Conceiving a Public. Ideas and Society in Eigh-
teenth-Century Europe, in: JMH 64 (1992), 79-116, 114.
89 Ulrich Im Hof, Das Europa der Aufklärung, München 1993, 213-218; Zappe,
Gebethbuch.
90 Puchalski, Imaginärer Name Österreich, 38.
91 Andreas Fahrmeir, Sozialer Wandel und politische Restauration in der Ära
Metternich, in: Ewald Grothe u. a. (Hg.), Liberalismus als Feindbild, Göttin-
gen 2014, 41-52, 51.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513