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154 Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar
Sterberegister, sondern stellten Lebensbestätigungen, Zeugnisse und
Anspruchsscheine für Pensionisten und Armenpfründner aus. Die Bei-
setzung von Protestanten auf katholischen Friedhöfen sorgte bis 1848
ebenso für stetige Reibereien wie die Versorgung akatholischer Un-
tertanen durch ursprünglich katholische Fürsorgeeinrichtungen. Die
vollständige staatsbürgerliche Gleichheit war Protestanten und Ortho-
doxen unter Joseph II. versagt geblieben, zwar versprachen seine Pa-
tente den akatholischen Christen alle bürgerlichen Rechte per Dispens
»ohne alle Erschwerung« zugänglich zu machen,98 aber der Teufel
steckte hier eben im Detail: Die Zulassung zum Bürger- und Meis-
terrecht, die Besitzbefähigung für Grund und Boden, die Aufnahme
in den Staatsdienst, all das war an eine behördliche Genehmigung ge-
knüpft, die bürgerliche Gleichheit war also beantragbar geworden, die
Dispenserteilung lag weiterhin in der Macht der Länderbehörden.99
Die »Toleranz« gilt ja als Apotheose der Aufklärung, Joseph II.
wurde als Toleranzkaiser verherrlicht.100 Wie wurde nun der Rechts-
gehalt der Toleranzedikte nach 1790 gedeutet, wie bis 1848 ausge-
legt? Bereits 1781, als die ersten Duldungspatente erlassen wurden,
äußerte Heinrich Joseph Watteroth, Sonnenfels’ späterer Nachfolger
als Professor der Staatswissenschaft, in einer Broschüre seine Sorge
darüber, dass die Fortdauer der Toleranz der Willkür »zukünftiger
Schwachköpfe«101 anheimgestellt bleibe. 1786 heißt es in einer an-
onymen Flugschrift, einige Patrioten sähen
unsre gegenwärtige Verfassung schon als höchste Stufe des Wohl-
stands, als das beneidenswertheste non plus ultra aller National-
glückseligkeit an; während des Kaisers Majestät selbst das, was bis
jetzt gethan ist, nur für die ersten Keime der in Zukunft daraus
entspringenden allgemeinen Wohlfahrt und für die bloße Grundlage
zur ferneren Vervollkommung des Staats zu erklären gewohnt sind.102
98 Hermann Conrad, Religionsbann, Toleranz und Parität am Ende des Alten
Reiches, in: Heinrich Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religi-
onsfreiheit, Darmstadt 1977, 155-191, 179.
99 Karl W. Schwarz, Die Protestantenemanzipation im Spiegel eines Majestätsge-
suchs der beiden Wiener Gemeinden (A. B. u. H.B.), in: WG 39 (1984), 1-12, 4.
100 Vgl. etwa Mattheus de Sallieth, nach Jean-François Pfeiffer, La Clemence
de Joseph II, Kupferstich, Inv. Nr. DG2005 /10319, Albertina.
101 Heinrich Joseph Watteroth, Für Toleranz überhaupt und Bürgerrechte der
Protestanten in katholischen Staaten, Wien 1781, 96-97, vgl. Ernst Wan-
germann, Die Waffen der Publizität. Zur Funktionsweise der politischen
Literatur unter Joseph II., München 2004, 151.
102 [Anonym,] Historisch-kritische Nachrichten von den durch die Briefe aus
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513