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159Kultusrecht
und Staatshandeln im Vormärz
sich warten.115 Eine Rekonfessionalisierung oder Resakralisierung des
öffentlichen Lebens und des Rechtsgefüges lässt sich aus diesen Stich-
punkten nicht ableiten.
Auch die strafrechtliche Entwicklung des »Religionsfrevels« um
1800 zwischen culpa (Fahrlässigkeit, Versehen) und dolus (vorsätzliche
Straftat) erlaubt eine ausgewogene Einschätzung. Bis ins 18. Jahrhun-
dert war die Gotteslästerung mit der Majestätsbeleidigung, der Verun-
glimpfung des gesalbten Person des Monarchen, in einer Deliktgruppe
zusammengefasst gewesen.116 Seit der Spätaufklärung wurde aus der
strafwürdigen Beleidigung der Gottesmajestät die desakralisierte »Re-
ligionsstörung«, so auch im Strafgesetzbuch von 1803. Diese gesetzge-
bungspolitische Innovation wirkte in die Restaurationszeit fort: Mit
dem bekenntnisneutral erfassten Tatbestand des Kultfrevels war die
Religionsausübung aller in der Monarchie erlaubten Glaubensrich-
tungen als schutzwürdig anerkannt, während die Gotteslästerung als
Gemütskrankheit pathologisiert wurde.117 Die Restauration hielt an
der Entsakralisierung der Religionsdelikte fest, die Kirche hatte ihre
Jurisdiktionsvollmacht und Disziplinierungsgewalt unwiederbring-
lich verloren. Fallweise schon unter Maria Theresia, besonders aber
unter Joseph II. wurde die Ahndung religiöser »Mißbräuche« als
»Polizeyübertretungen« in das Strafgesetzbuch eingefügt,118 die in das
Deliktkonglomerat der – universal-standesneutral formulierten, aber
wiederum schichtspezifisch konfigurierten – »Erregung öffentlichen
Ärgernisses« eingelassen wurden.119 Das Gesellschaftsbild des Barock
115 Maaß, Josephinismus, V, 587.
116 Constitutio Criminalis Theresiana, 1769, Art. 55.
117 Daniela Tinková, »Das Recht, die Beleidigung Gottes zu rächen«. Verwan-
delte Auffassung der »Religionsverbrechen« an der Wende des 18. Jahr-
hunderts, in: Wilhelm Brauneder, Milan Hlavačka (Hg.), Bürgerliche Ge-
sellschaft auf dem Papier. Konstruktion, Kodifikation und Realisation der
Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie, Berlin 2014, 379-405, 395.
118 Im April 1829 klagt das Wiener Fürsterzbischöfliche Konsistorium bei der
Niederösterreichischen Landesregierung über den Verfall der »Sittlichkeit
und Religiosität«, über »Ausschweifungen«, die aber, da sie nicht in die
»Classe der schweren Polizeiübertretungen oder Verbrechen« gehören,
nicht geahndet werden könnten, zit. n. Saurer, Zur Säkularisierung des Sün-
denkonzepts, 211. Dagegen argumentierte die Landesregierung mit § 245
des Strafgesetzbuchs von 1803, dass in den erwähnten Fällen offenbar keine
Erregung öffentlichen Ärgernisses vorliege.
119 Die Tatbestandsmerkmale der Sittenwidrigkeiten (v. a. Ehebruch) ergaben
sich aus schichtspezifischen Zuständen: Aufgrund der Wohn- und Haus-
haltssituation der unteren Stände war in deren Alltagsleben die Grenze
zwischen Privatheit und »Öffentlichkeit« ungleich durchlässiger als bei den
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513