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172 Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar
Gesamtbild: Die katholische Restauration gliederte sich in zwei rivali-
sierende Tendenzen, einen eher gesamtstaatlich orientierten Flügel und
eine stärker national gefärbte, in den jeweiligen »Wiedergeburten« der
Länder engagierten Richtung. Galt die »Nation« der ersten Gruppe
geradezu als Resultat des modernen, revolutionären und kirchenfeind-
lichen Zeitgeistes, so bildete für Letztere die katholische Nation die
einzige Schutzwehr gegen Aufklärung und Revolution.
Aber auch dieses Nationskonzept blieb im Klerus der Kronländer
nicht unangefochten: Hier mussten sich restaurative Geistliche, die
sich für die Wiedergeburt begeisterten, mit ihren liberalen Konkur-
renten auseinandersetzen, mit ihnen wetteiferten sie um die intellek-
tuelle Lufthoheit, um Vertretungsanspruch und Themenführerschaft
im Feld des »Erwachens«. Die restaurativen und liberalen Programme
der »Wiedergeburt« beriefen sich auf gegensätzliche Genealogien des
Patriotismus und auf diametrale Einschätzungen von Nutzen und
Nachteil der Aufklärung für die jeweilige Nation. Die restaurations-
affinen Kleriker betrachteten den kirchlichen Patriotismus des Barock
als Vorbereitungsphase der »Wiedergeburt«, deren Initialzündung mit
dem Widerstand gegen die Kirchenreformen Josephs II. erfolgt sei, die
Erneuerung des Katholizismus beschrieben sie als Überlebensgarantie
für ihre jeweilige Nation.
Dagegen schrieben die liberalen Parteigänger des »Erwachens« in
der Geistlichkeit an: Ihnen galt ein aufgeklärter Glaube, der frugal,
vernunftgeprägt und tolerant sein müsse, als wirksamstes Mittel der
Volksaufklärung. Die liberalen Träger der »Wiedergeburt« knüpften
damit inhaltlich positiv an die josephinischen Reformen an, schrieben
ihnen aber eine spezifische Bedeutung zu: Die bürgerliche Gleichheit,
der aufgeklärte Glaube und die Toleranz sollten es den liberalen Kleri-
kern zufolge endlich ermöglichen, die ständischen und konfessionellen
Schranken niederzureißen, welche die Angehörigen der Nation noch
immer voneinander trennten.149 So wurden die josephinischen Refor-
149 Wertvolle Anregungen für eine vergleichende Analyse bei Ettore Passerin
d’Entrèves, Il cattolicesimo liberale in Europa ed il movimento neoguelfo in
Italia, in: Nuove questioni di storia del Risorgimento e dell’Unità d’Italia,
Bd. I, Milano 1961, 565-606. Vgl. weiters Irmtraud Götz von Olehusen,
Klerus und abweichendes Verhalten. Zur Sozialgeschichte katholischer
Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg, Göttingen 1994;
Henning Türk, Ludwig Andreas Jordan und das Pfälzer Weinbürgertum.
Bürgerliche Lebenswelt und liberale Politik im 19. Jahrhundert, Göttingen
2016, 225-226. Übergreifende komparative Studien zum liberalen Katholi-
zismus innerhalb der Habsburgermonarchie fehlen ebenso wie vergleich-
bare Arbeiten aus europäischer Perspektive.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513