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175Von
der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismus
Kirche, die den Barockpatrioten als Hort der sakralisierten Nation
galt und seit den 1780er Jahren zusätzlich zur Schutzwehr gegen Auf-
klärung und Revolution aufgebaut wurde, ergaben sich daraus einige
Schwierigkeiten. Ein Blick nach Böhmen macht diese Problemstellun-
gen deutlich und zeigt zugleich, wie die böhmische Gelehrtenkultur
zum Kristallisationskern innovativer Konzepte für die Geschichte der
Slawen überhaupt wurde.
In Prag und anderen Städten des Königreichs hatten jesuitische
Barockpatrioten eine historiografische Kultur aufgebaut, die das Bild
Böhmens als hussitisches Ketzernest aus der Geschichte tilgen sollte,
um die Bohemia sacra, ein Aushängeschild der Rechtgläubigkeit, an
seine Stelle zu setzen.153 So glanzvoll sich das christliche Böhmen
hier präsentierte, so umstritten waren seine Quellen: Die kritische
Geschichtsforschung des 18. Jahrhunderts, wie sie Václav Fortunát
Durych, der Haupturheber der von Maria Theresia in Auftrag gege-
benen tschechischen Bibel, Dobner und Dobrovský betrieben, führte
hier zu einer Auffächerung von Ursprungserzählungen, die wiederum
historische Herleitungen der volkssprachlichen Liturgie ermöglichten.
Im Falle Böhmens ging es um den ursprünglichen Vorrang des lateini-
schen oder des von Kyrill und Method eingebürgerten byzantinischen
Ritus in der Region und um die Trägerfunktion dieser Riten für die
slawische Liturgie.154
Dass dieses Thema politische Sprengkraft barg, belegt Bartholo-
mäus Kopitars Intervention im frühen 19. Jahrhundert. Kopitar, der
ursprünglich aus dem Herzogtum Krain gebürtige Wiener Hofbib-
liothekar und Tausendsassa in slavicis, warb für die Schlüsselrolle des
Habsburgerstaats als Vereinigungspunkt der West- und Südslawen,
für sein Programm hat sich der Begriff »Austroslawismus« eingebür-
gert.155 Kopitar sollte es im Vormärz gelingen, den aufklärerischen
Traum von der volkssprachlichen Liturgie in ein Vehikel des Aust-
roslawismus und in eine integrative Praxis für die Gesamtmonarchie
of the Bible/ Interpretation der Bibel/ Interprétation de la Bible/ Interpre-
tacija Svetega pisma, Sheffield 1998, 1479-1497.
153 Howard P. Louthan, Imagining Christian Origins: Catholic Visions of a
Holy Past in Central Europe, in: ders. u. a. (Hg.), Sacred History: Uses of
the Christian Past in the Renaissance World, Cambridge 2012, 145-164,
157-163.
154 Bohumil Zlámal, Příručka českých církevních dějin [Handbuch der böhmi-
schen Kirchengeschichte], 10 Bde., Olomouc 1970-1972, 10 /2, 45-48.
155 Vgl. Jože Pogačnik, Bartholomäus Kopitar. Leben und Werk, München
1978.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513