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188 Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar
Die Herbartianer hätten, so Günther, das »Leibnitz-Wolf’sche Sys-
tem« geschickt »in Pacht genommen«, tatsächlich seien sie aber keinen
Deut besser als die Hegelianer: Der Herbartianismus, schrieb Günther
»läßt den Glauben stehen, wo er steht, d. h. er lacht sich in die Faust,
daß er nicht mehr aufrecht steht, und befaßt sich blos mit den Wider-
sprüchen in den empirischen Begriffen.«198 In Prag wurde der Hegelia-
ner Ignác Jan Hanuš199 durch den Bolzanoschüler und Herbartianer
Robert Zimmermann abgelöst, für die Güntherianer drohte sich an den
österreichischen Universitäten eine staatsphilosophische Monokultur
breitzumachen: Die Herbartschule solle nun jene Stelle einnehmen,
die – wie erwähnt – in Preußen der Hegelianismus innehatte. Die Her-
bartianer vergalten diese Anschuldigung des radikalen Individualismus
mit dem Vorwurf des Materialismus, der sich angeblich aus Günthers
Lehre über die Geistnatur des Menschen gewinnen ließ.200
Diese wissenschaftspolitischen und theologischen Bruchlinien
wurden in den 1850er Jahren durch weitere Konfliktfelder überformt:
Auch bei der klerikalen Intelligenz zeigte sich nämlich in den 1850er
Jahren der Umbruch vom vormärzlichen Weltbürgertum der Völker-
freundschaft zu einander ausschließenden Nationalcharakteren, der im
ersten Kapitel rekonstruiert wurde.201 Das Autostereotyp und Distink-
tionsmerkmal der frommen und monarchisch-loyalen Slawen202 wurde
198 »Weiter heißt es von dem Hegel’schen Systeme, dasselbe habe noch keine
historische Geltung erlangt, wie manches ihm vorausgegangene System.
Das wird wohl das Leibnitz-Wolf’sche System sein, welches die Herbarti-
aner in Pacht genommen, und mit dem sie umgegangen sind wie der Hund
mit dem Bettelsacke, der zugebunden, aber hungrig war. Der Hund war
aber so glücklich, ein Loch in den Sack zu kratzen, und so gelang es ihm,
Gott als Urmonade herauszuscharren und als harte Nuß für sein miserables
Gebiß (A = A) für immer zu besitzen. Ja, ja! Wir wissen schon, was euch
gefällt am Herbartianismus. Er läßt den Glauben stehen, wo er steht, d. h. er
lacht sich in die Faust, daß er nicht mehr aufrecht steht, und befaßt sich blos
mit den Widersprüchen in den empirischen Begriffen«, Anton Günther an
Johann N. Ehrlich, März 1852, zit. n. Knoodt, Anton Günther, Bd. II, 112.
199 Siehe Jaromír Loužil, Ignác Jan Hanuš, Praha 1971.
200 Anton Günther an Johann E. Veith, [1856], zit. n.: Domprediger Johann
Emanuel Veith und Kardinal Friedrich Schwarzenberg, 113-114. Die Her-
ausgeber datieren den Brief auf 1855, der Artikel Sebastian Brunners, auf
den sich der Brief bezieht, erschien aber im Februar 1856, [Sebastian Brun-
ner,] Christentum und Geologie, in: WK, 29. 2. 1856 u. 4. 3. 1856, 137-139,
145-147.
201 Vgl. Kapitel I.6.
202 Über die liberaldemokratische Natur der deutschnationalen Bestrebun-
gen vgl. František Petery, Co jest kresťanské wlastenectwí? [Was ist das
christliche Vaterland?], in: ČKD (1847) 2, 266-275. Václav Štulc knüpfte
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513