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203Kant
im restaurativen Wissensregime
und Rousseau. In ihren Manuskripten legten sie dar, dass der Glaube
an Gott als äußere Instanz eine bloße Projektion sei. Sobald man diese
moralische Letztverantwortung auf Gott abwälze, weiche man bereits
vom Sittengesetz ab. Unter Leopold II. waren die Generalseminare
aufgehoben worden, die Auseinandersetzung mit Kant dämpfte das
kaum. Franz Josef Hurdálek etwa, der ehemalige Rektor des Prager
Generalseminars und spätere Bischof von Leitmeritz / Litoměřice –
er wurde 1822 im Zuge der Affäre rund um den Tugendbund des
Bolzano-Schülers Josef Michael Fesl des Amtes enthoben – erinnert
sich, seine »Hauptbeschäftigung« sei, wie er »wohl nur einem Freunde
ins Ohr sagen« dürfe, »die kritische Philosophie« gewesen.24
Für protestantische wie katholische Theologen um 1800 war Kants
Erkenntnislehre attraktiv, weil sie sich anbot, um den Materialismus
zu widerlegen.25 An diesem Punkt gabelten sich die Funktionen von
Kants Erkenntniskritik: Gegner der Aufklärung machten sich Kants
Erkenntniskritik zunutze, indem sie die spirituelle Gotteserkenntnis
scharf vom Bereich des Intellekts schieden. Kants Betonung der Gren-
zen der Vernunft konnte man im Sinne der Demut und Erkenntnisab-
stinenz lesen, als Bestätigung des allein seligmachenden Glaubens und
als Warnung vor einer Veränderung der bestehenden Ordnung.26 Die
Argumentation Kants ließ aber auch eine andere, subversive Lesart
zu. Wenn man davon ausging, dass das Weltgesetz nicht vollständig
begreifbar war, dass Verstandesregeln und Vernunftprinzipien die
Gegenstände der Erkenntnis konstituierten, dann konnte diese Prä-
misse ja auch einen skeptischen anti-theonomen Schluss nahelegen:
Den nämlich, dass das Prestige der von Staat und Kirche besoldeten
Ausleger dieses Weltgesetzes aus historischen Gründen erklärbar war,
ihre Deutungen aber um nichts glaubwürdiger waren als jene eines
24 Josef August Ginzel, Bischof Hurdálek, ein Charakterbild aus der Ge-
schichte der böhmischen Kirche, Prag 1873, 9.
25 Dezső Trócsányi, Mándi Márton István tudományos munkássága [Das wis-
senschaftliche Werk István Mártons von Mánd], Pápa 1931, 145. Jakub Siro-
vátka, Den »Alleszermalmer« zermalmt? Der Streit um Kant. Joseph Weber,
Stattlers »Anti-Kant« und Bischof Sailer, in: Norbert Fischer (Hg.), Kant
und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg
2005, 263-281.
26 Vgl. Christoph Leitgeb, Schicksal und Lüge, oder: Biedermeierliche Auf-
klärung. Kant in Grillparzers »Lustspiel«, in ders., Richard Reichensperger,
Walter Weiss (Hg.), Grillparzer und Musil. Studien zu einer Sprachstilge-
schichte österreichischer Literatur, Heidelberg 2000, 42-77; Anton Günther,
Ein Wort über den Vernunfthaß auf katholischem Gebiet, in: ZGKT 3
(1852), 53-64.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513