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208 Wissenskulturen des Vormärz
In Euristheus und Heracles: Meta-logische Kritiken und Meditatio-
nen von 1843 – der Titel erinnert an König Eurystheus, der Herakles
das Ausmisten des Augiasstalles auftrug – rekapituliert Günther die
Kant-Begeisterung, die um 1800 unter den katholischen Theologen
um sich gegriffen hatte. Diese Kantaffinität zeigte sich in zwei Varian-
ten. Zum einen war da die Wiedergewinnung der positiven Religion,
die eben nicht durch die Vernunft begründbar war:
Da gab es nämlich eine Unzahl von Theologen, denen das kantische
Nichtwissen in der theoretischen Philosophie zur guten Stunde
kam, indem sie gerade diese Negativität zur Basis der positiven Of-
fenbarung machten, und zwar für das theoretische Wissen zunächst,
hierdurch aber auch für practisches Wissen als Gewissen. Sie fanden
den Kriticismus zwar einen unbärtigen Landstreicher, der sich aber
ohne viel Umstände auf der Herberge von katholischen Werbern
den Hut sammt Federbusch aufsetzen und so in katholische Uni-
form stecken und adjustirt in’s Feld stellen ließ.41
Die zweite Variante des katholischen Kantianismus im frühen 19.
Jahr-
hundert, die Günther ausmachte, versuchte den Materialismus durch
eine Doppelstrategie in die Schranken zu weisen, indem sie nämlich
die Oberhoheit des Verstandes in der Welterkenntnis und den Vorrang
der praktischen Vernunft in der Erkenntnis der Glaubenswahrheiten
begründete. Nun bestand für Günther der Kardinalfehler Kants und
der katholischen Kantianer darin, dass sie die Behauptung, das Natur-
gesetz und mit ihm die Kausalität sei ein Produkt des intelligiblen Ichs,
unvermittelt neben die Rolle des Verstandes in der Gestaltung der Na-
tur aus dem unübersichtlichen Sinnenmaterial stellten. Kant machte
das transzendentale Erkenntnisobjekt »an sich« für die Theorie der
Erfahrung bedeutungslos, indem er es für unerkennbar erklärte. Da-
mit habe er die Möglichkeit ausgeschlossen, dass dieses Objekt das
Emerich Coreth, Walter M. Neidl, Georg Pfligersdorffer (Hg.), Christliche
Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1,
Graz 1987, 266-284. Wertvoll auch die kommentierte Anthologie von Joseph
Pritz, Glauben und Wissen bei Anton Günther. Eine Einführung in sein
Leben und Werk mit einer Auswahl aus seinen Schriften, Wien 1963, weiters
Bernhard Oßwald, Anton Günther. Theologisches Denken im Kontext einer
Philosophie der Subjektivität, Paderborn 1990.
41 Anton Günther, Nachträgliche Randglossen zu einigen Waidsprüchen der
Gegenwart über Vergangenes in der Geschichte europäischer Philosophie,
in: ders., Euristheus und Heracles. Meta-logische Kritiken und Meditatio-
nen, Wien 1843, 315-348, 335.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513