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215Bernard
Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik
soll: Aufklärung und Liberalismus. Auf diese Weise wurde ein dop-
pelter Kontinuitätseffekt generiert, der philosophische Überlieferung
und politische Überzeugung verbindet. Die Verfolgung Bolzanos hat
dazu geführt, dass der Radius seines Wirkens überschätzt wurde und
sich Fehlurteile eingeschlichen haben, was die Beweggründe für die
Amtsenthebung betrifft.60
Gewiss war Bolzano dem Wiener Nuntius und den Hofstellen ver-
dächtig, aber war er es wirklich seiner philosophischen Anschauungen
wegen? Wenn man die Enthebung Bolzanos in den Kontext der Stu-
denten- und Demagogenverfolgung nach dem Wartburgfest von 1817
einbettet, ergibt sich eine ausgewogenere Einschätzung.61 Bolzanos
Staatsphilosophie und seine Theologie gilt es ebenfalls zu berück-
sichtigen, bevor man ihn leichtfertig dem Liberalismus zuschlägt. Mit
Kants kategorischem Imperativ, der ein allgemeines Kriterium des Sol-
lens aufstellte, ohne das Realsubstrat des »höchsten Gutes« zu erklä-
ren, konnte sich Bolzano nicht anfreunden. Als glühender Anhänger
des Gemeinwohlimperativs der josephinischen Aufklärung definierte
Bolzano das »oberste Sittengesetz« als Unterwerfung des Einzelnen
unter das »allgemeine Beste, oder das Wohl des Ganzen«.62 Kants
Konzeption der Freiheit war ja in der Selbstbestimmtheit begründet,
die in der Absenz von Zwängen, sei es sinnlicher Antriebe, sei es durch
einen fremden Willen, bestand – sie ermöglichte es dem Bürger, ver-
nünftig nach allgemein anerkennungsfähigen Regeln zu handeln und
sich der natürlichen Rechtspflicht des friedlichen Interessenausgleichs
im Gemeinwesen zu unterwerfen.63 Für Bolzano war die kantianische
Definition des Sittengesetzes inhaltsleer, Kants Verhältnisbestimmung
zwischen natürlicher und sittlicher Welt unausgegoren. Bolzano hat
sein Ideal des Gemeinwesens in seinem Büchlein Von dem besten
Staate dargelegt, es gipfelt in einem von Subsistenz- und Tauschökono-
mie flankierten prüden Zwangsregiment, dessen plebiszitär bestimmte
60 Marie Pavlíková, Bolzanovo působení na pražské univerzitě [Bolzanos Wirken
an der Prager Universität], Praha 1985, dazu kritisch Jiří Kořalka, František
Palacký a čeští bolzanisté [František Palacký und die tschechischen Bolzanis-
ten], in: Zdeněk Kučera, Jan B. Lášek (Hg.), Modernismus: Historie nebo
výzva? Studie ke genezi českého katolického modernismus, Brno 2002, 98-
134, 124.
61 Siehe Jane Regenfelder, Der sogenannte Bolzano-Prozeß und das Wartburg-
fest, in: Rumpler (Hg.), Bernard Bolzano und die Politik, 149-178.
62 Bernard Bolzano, Erbauungsreden der Studienjahre 1804 /05-1807 /08 [Bernard
Bolzano Gesamtausgabe, Reihe II Nachlass A. Nachgelassene Schriften,
Bd. 15], Stuttgart-Bad Canstatt 2007, 18.
63 Vgl. Horst Dreier, Kants Republik, in: JZ 59 (2004), 745-804.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513