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217Bernard
Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik
erzählungen und die authentische Überlieferung der heiligen Schrif-
ten anging, machte die Mitteilungsexegese der historisch-kritischen
Bibelhermeneutiker, von der gleich noch ausführlicher die Rede sein
wird, hinfällig.67 Die Gleichgültigkeit, mit der Bolzano die Mirabilien
betrachtete, bedeutet aber nicht, dass er die Lehre von der Unsterb-
lichkeit und Immaterialität der Seele aufgegeben hätte.68 Im Gegenteil
sperrten sich die Bolzanojünger konsequent gegen die kantianisch-
protestantische Spielart des aufgeklärten Liberalismus, wie sie Kants
Nachfolger Wilhelm Traugott Krug vertrat, dessen Lehre Joseph C.
Likawetz für seine Elementa adaptiert hatte.69
Wenn man die Gründe für Bolzanos Amtsenthebung und ihre
Begleitumstände unter die Lupe nimmt, fällt ein Widerspruch auf:
Bolzano wird immer wieder als Fortsetzer der Leibniz-Wolff’schen
Scholastik bezeichnet, zugleich bildete dieses System angeblich den
Kern des sanktionierten Philosophie-Lehrstoffs während der Res-
tauration. Wie ist dann aber Bolzanos Verfolgung zu erklären? Dass
es für die staatliche Förderung der Leibniz-Wolff’schen Philosophie
wenig triftige Anhaltspunkte gibt, wurde bereits festgestellt. In der
Tat verdichten sich die Indizien dafür, dass im engeren Sinne politi-
sche Motive für Bolzanos Entlassung ausschlaggebend waren. Auf
die argwöhnische Überwachung der Universitäten und geheimen Ge-
sellschaften, vor allem studentischer Verbindungen, habe ich schon
hingewiesen. Zudem zieht sich durch die Materialien und Akten des
las die Bücher (sc. des alten Bundes) und mit seiner frohen, ihm nicht nach
zuempfindenden Verwunderung fand er, daß somanches von dem, was diese
Bücher von Messias sagten, an ihm bisher recht wunderbar in Erfüllung
gegangen sei. Er fand, daß alles bereits beschrieben stehe, und konnte nicht
umhin, hierin den Finger Gottes anzuerkennen«, Frint, Auszüge auffallender
Stellen aus Bolzanos gedruckten Religionslehren und -reden, HHStA KA,
569 /1819, No. 7; »Jesus selbst beruft sich auf die Stelle des 18. Psalmes, daß der
Messias mehr als ein blosser Sohn Davids sein müsse; und so scheint es, daß
Jesus selbst unter mehreren anderen Gründen auch durch diesen Psalm zu der
Überzeugung gebracht worden sei, daß er Gottes nicht lästere, wenn er sich
der Sohn Gottes nennt«, No. 16. Die Hervorhebungen stammen von Frint.
67 Vgl. IV.4 unten.
68 [Bernard Bolzano,] Anhang zur zweiten Auflage der Athanasia; enthaltend
eine kritische Übersicht der Literatur über Unsterblichkeit seit 1827, da die
erste Auflage erschienen war, Sulzbach 1838, 5-6, 10.
69 Vgl. die Replik auf die von W. T. Krug in seinem Henotikon geäußerte Kritik
an Bolzanos Lehrbuch der Religionswissenschaft in [Johann N. A. Zimmer-
mann,] Krug und Bolzano. Oder Schreiben an den Herrn Professor Krug in
Leipzig, Sulzbach 1837, 10-13.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513