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221Bolzanisten
versus Herbartianer
automatisch zu dessen Befolgung führe.84 Die liberalen Herbartianer
betonten, dass es vielmehr einer pädagogisch-ästhetischen Konzeption
zur Verstetigung und Verkettung sittlich zuträglicher Entscheidungen
bedürfe, in diesem Geiste nahmen sie in den 1850er Jahren die Univer-
sitätsreform in Angriff.85
Bolzanisten wie Herbartianer bemühten sich, die Gesetze aufzu-
decken, welche die Wechselabhängigkeit und das Interagieren der
menschlichen Vorstellungen im Prozess des Erkennens und Urteilens
bestimmten. Bolzano betonte, dass während des Urteilsprozesses eine
Wahrheit im Bewusstsein erscheine: Dadurch werde diese Wahrheit
freilich keineswegs subjektiviert, sie hänge schließlich nicht vom Wil-
len des erkennenden Subjekts allein ab, sondern von naturgesetzlichen
Notwendigkeiten, welche die Beschaffenheit und das Zusammenwir-
ken sämtlicher in der jeweiligen Seele zugleich vorhandener Vorstel-
lungen bestimmten.86
Hier setzten die liberalen Herbartianer um Exner an: Sie brachen
mit Bolzanos Konzept einer präpositionalen, nicht an Psyche und
Sprache gebundenen Objektivität.87 Ebenso eindeutig widersprachen
die Herbartjünger auch Bolzanos Lehre von den zusammengesetzten
Vorstellungen und seiner Unterscheidung zwischen Anschauung und
Begriff.88 Bolzanos Konzeption der wahren »Sätze an sich« sah ganz
irgend einem zynischen Philosophen ein Exempel zu liefern, an dem er seine
Glückseligkeitslehre demonstrieren kann […].«
84 Schrödter, Philosophie und Religion, 121-126.
85 Johannes Feichtinger, Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Intellektuelle
Konstellationen und Traditionslinien in der späten Habsburgermonarchie,
in: Agnes Husslein-Arco, Alexander Klee (Hg.), Kubismus, Konstruktivis-
mus, Formkunst, München 2016, 9-15.
86 Franz Ryschawy, Die Beziehungen Bernard Bolzanos zur südwestdeutschen-
katholischen Aufklärung und sein Kampf gegen die römisch-katholische
Restauration, Dissertation Universität Wien 1983, 2 Bde., Bd. I, 88.
87 Vgl. Bernard Bolzano an Franz S. Exner, 28. 2. 1837: »Uebrigens ist mir nicht
völlig klar, warum Sie mit so viel Zuversicht behaupten, fängt man einmal zu
rechnen an, so folge nothwendig eine Umgestaltung der Ansichten sowohl
über die Seelenvermögen als insbesondere über die Entstehung der Begriffe.
Ich habe zwar nichts dagegen, dass diese aus Wahrnehmungen entspringen,
wenn dies nur so verstanden werden soll, dass Wahrnehmungen die Veran-
lassung zur Entstehung gewisser Begriffe, denen sie unterstehen, darbieten;
wenn aber die Meinung dahin ginge, dass ein Begriff z. B. Etwas, Körper,
u. dgl. nichts Anderes sei als eine Summe mehrer Wahrnehmungen von
gewisser Art: so könnte ich dies unmöglich zugestehen«, Briefwechsel B.
Bolzano’s mit F. Exner, 111, vgl. weiters ebda., 108-109.
88 Eduard Winter, Einleitung, in: Der Briefwechsel B. Bolzano’s mit F. Exner,
XV.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513