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226 Wissenskulturen des Vormärz
fort.102 Die Exegeten des Vormärz erbten das kritische Feinbesteck,
das ihre aufgeklärten Lehrer zur Herausarbeitung mitteilungsexege-
tischer Nuancen entwickelt hatten, verwischten aber die Ursprünge
ihrer Methoden in der Aufklärung.
Der Prämonstratenser Johann Jahn, um 1800 als Professor der Bi-
belhermeneutik in Wien einer der bedeutendsten Orientalisten und
Exegeten der katholischen Welt, belegte in seiner Biblischen Archäo-
logie, dass die Bücher Mose eine Kompilation waren und führte im
selben Atemzug aus, warum das ihren Quellenwert nicht schmälere:
[D]er Sammler der Fragmente des ersten Buchs der Bibel hat die
Zusammenstellung derselben offenbar auch in der Absicht unter-
nommen, um den Entstellungen und Dichtungen anderer Nationen
in jüngeren Zeiten, etwas zuverläßiges entgegenzusetzen, wie schon
das erste Kapitel des ersten Buchs Mosis deutlich zeigt […] Es ist
im Gegentheil offenbar, daß der gewissenhafte Sammler, der das
Zuverläßige von den unzuverläßigen Sagen absöndern, und den
Dichtungen, Entstellungen, und vergrößerten Erzählungen etwas
gewisses hat entgegenstellen wollen, nur darum so wenig Nachrich-
ten aus den ältesten Zeiten aufgenommen hat, weil er nicht mehrere
zuverlässige vorfand, und alles Ungewisse und Schwankende, alle
vergrößerte und entstellte Sagen, alle Dichtungen und Mythen nicht
für würdig hielt, auf die Nachwelt fortgepflanzt zu werden.103
Als Jahn in seiner Biblischen Archäologie die heiligen Schriften als
ebenso epochales wie einzigartiges Geschichts- und Offenbarungs-
sey – d. i. daß nicht die Absicht des Redenden, oder Handelnden dadurch
angezeigt werde, sondern bloß ein Erfolg wegen Aehnlichkeit eines andern
Erfolges oder Rede, die mit einer andern übereintrifft, ist außer Zweifel
[…]«, [Anonym,] [Rez. v.] Michael Arneth, Die Unterschiede zwischen der
bloß rationellen, und der katholischen Schriftauslegung. In Briefen an einen
älteren gelehrten Freund auseinandergesetzt, Linz 1816, in: TPM, 3. Aufl.,
Rottenburg, 1833, 14 VI/6 [1817], 128-137, 134-135.
102 Vgl. Michael Arneth, Die Unterschiede zwischen der bloß rationellen, und
der katholischen Schriftauslegung. In Briefen an einen älteren gelehrten
Freund auseinandergesetzt, Linz 1816, 85-95. Vincenz Darnaut nennt Ori-
genes und Tertullian »schwärmerische Witzlinge«, die »eitel Vernüfteln«,
Vincenz Darnaut, Über den Begriff und den Werth der christlichen Religi-
ons- und Kirchengeschichte: Eine Aufmunterung zum Studium derselben,
in: WTZ (1816) 2, 135-164, 157.
103 Johann Jahn, Biblische Archäologie, Bd. I/1, Häusliche Alterthümer, Wien
1796, 38-40. Ebda. zu Jahns Übereinstimmung mit Johann G. Eichhorn.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513