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230 Wissenskulturen des Vormärz
Was aber vorzüglich auffällt, gerade in jener Wissenschaft, in wel-
cher die Protestanten die Katholiken gefesselt glauben, haben wir
Meisterwerke aufzuweisen […] Es ist geschichtlich erwiesen, daß
in der freymüthigen (nicht frechen) Exegese die Katholiken den
Protestanten vorangegangen sind […] Wer hat sich zuerst über das
Kennikot’sche Bibelwerk hergemacht? Katholiken. Wer hat zuerst
mit den Masorethen angebunden?113
Hilles Verteidigung der katholisch-aufgeklärten Exegese versuchte das
protestantische Klischee des rückständigen, im eigenen Saft schmoren-
den Katholizismus zu entkräften.114 So unterwanderte Hille die sich
verdichtende Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus,
durch welche die Aufklärungsferne der katholischen Intelligenz zu
ihrem Gütesiegel aufgebaut werden sollte.115
Dem restaurativen Wissensregime empfahlen sich die aufgeklärten
Exegeten, indem sie ihr »positives Wissen« gegen die spekulative Ro-
mantik und gegen den protestantischen Rationalismus ausspielten.116
113 [Augustin Bartholomäus Hille,] Soll die Scheidewand unter Katholiken
und Protestanten noch länger fortbestehen? Ein Wort der Liebe an alle,
welche die katholische Kirche nicht kennen, oder gar mißkennen, 3. Aufl.,
Augsburg 1820, 203. Die Masoreten entwickelten ab dem 8. Jahrhundert
zur Tradierung des in Konsonantenschrift überlieferten Pentateuchs
ein System der Kantillation und Vokalplatzierung: Hille meint, dass die
historisch-kritische Auslegung hier ansetzen musste und spielt dabei auf
Richard Simon an, der ja im 17. Jahrhundert die Textgeschichte des Alten
Testaments zu erschließen begonnen hatte. Zudem nennt Hille Benjamin
Kennicotts textvergleichende Arbeit Vetus Testamentum hebraicum cum
variis lectionibus (1776-1780), die eben die Volkalpunkte und die Kollation
der masoretischen Quellen vernachlässigt hatte.
114 Claus U. D. von Eggers, Nachrichten von der beabsichtigten Verbesserung
des öffentlichen Unterrichtswesens in den österreichischen Staaten mit
authentischen Belegen, Tübingen 1808, III. Jakob Frint, Über den Ur-
sprung und die Ausbreitung des Rationalismus, in: WTZ 2 (1815), 87-170,
147: »Man hat daher in dem Katholicismus von jeher auf den Genius der
Sprache, in welcher Jesus und seine Apostel geredet haben, auf die Zeit-,
Personen- und Ortsverhältnisse, auf den Zusammenhang, die Parallel-Stel-
len und auf alle Regeln einer richtigen Exegese Rücksicht genommen, wenn
man den Sinn der h. Urkunden aufsuchte.«
115 Vgl. Kap. III.4.
116 Anton Günther schrieb etwa vom Sinn der Offenbarung als »flüssigem
Wort Gottes«, das man aus dem biblischen »Sinn der Rede« wie einen »Tau-
tropfen« aus einem »Petrefakt« gewinnen müsse, Günther, [Rez. v.] Thomas
Ziegler, Akademische Rede über die Verwerflichkeit des theologischen
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513