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234 Wissenskulturen des Vormärz
Bildspender und Erwartungshorizont für die liberalen Naturwissen-
schaftler, obwohl sie Newtons korpuskularer Lichtkonzeption mit der
Wellentheorie eine überzeugende Alternative entgegensetzten und die
Singularität der Gravitation als einzige Kraft der Materie hinterfragten.
Zwar war das newtonianische Weltbild als universales Erklärungsras-
ter für das Naturganze untauglich, seine Fruchtbarkeit erwies sich aber
noch in den Detailansätzen zu seiner Überwindung: Aus Newtons
Kraftlehre ergab sich das Postulat, dass den anderen, gravitationsana-
logen Kräften je eigene spezifische Materien anhaften mussten. Nun
führte das vergebliche Forschen nach diesen sogenannten Imponde-
rabilien, Scheingrößen wie Wärmestoff und Lichtäther sowie elektri-
schen und magnetischen Flüssigkeiten, aber zu einem unbeabsichtigten
Resultat, das wiederum das newtonianische Schema der Naturgesetze
bestätigte, legte es doch den Schluss nahe, dass sich alle Naturkräfte
durch geeignete Vorrichtungen restlos ineinander umwandeln ließen.124
So besaß der newtonianische Weltentwurf unbeschadet einzelner
Modifikationen von Newtons Naturlehre eine elementare Doppel-
funktion: Die Basisprämissen dieses Weltentwurfs, die Einheit der Na-
tur, die Universalität der Naturgesetze und die Kommensurabilität der
Naturkräfte, fungierten als epistemische Matrix und als politische Res-
source. Als Graf Rottenhan in den 1790er Jahren die »positive« Natur-
forschung als Hoffnungsträger beschrieb, von der er sich eine genuin
antirevolutionäre Wissenschaft erwartete, dann geschah das deshalb,
weil hier die Bestätigung der Schöpfungsordnung der Forschungs-
methode inhärent schien, sich also zwangsläufig aus dem Erkenntnis-
programm ergab.125 Langfristig etablierten sich auf diese Weise das
bemerken, auf höhere Zwecke zurückzuführen, so wird die Einrichtung des
Weltgebäudes, und die Kenntnis der aufeinander folgenden Ausbildungen
desselben von dem ursprünglichen Chaos bis zu seiner höchsten Stufe, und
von da wieder bis zur endlichen Verfalle, und der Bildung einer neuen Welt
aus den Trümmern der alten, nicht weniger interessant seyn, und uns nicht
weniger würdige Begriffe von dem großen Urheber des Ganzen geben, als
alle die tausend anderen kleinlichen Untersuchungen, denen man oft, ohne
seinen Zweck zu erreichen, ein ganzes Menschenalter ausschließend gewid-
met hat«, Joseph Johann Littrow, Populäre Astronomie, 2 Bde., II/1, Wien
1825, 274-275.
124 Schrötter, Baumgartner, 20.
125 Vgl. Kap. IV.1 u. Wolfgang van den Daele, Die soziale Konstruktion der
Wissenschaft – Institutionalisierung und Definition der positiven Wissen-
schaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Gernot Böhme, Wolf-
gang van den Daele, Wolfgang Krohn (Hg.), Experimentelle Philosophie.
Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt
a. M. 1977, 129-
182, 163-164.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513