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238 Wissenskulturen des Vormärz
Lapidar fügte Littrow hinzu: »Pferde und Hunde geben die gleiche
Erscheinung.«134 Damit hatte Littrow nicht nur eine Kritik an Wunde-
rerscheinungen formuliert, sondern zugleich noch die Akkommodati-
onslehren der Bibelhermeneutik und Mythosforschung ausgehebelt. In
diesem Sinne folgt der Seitenhieb gegen die philologische Deutungs-
hoheit über diese Phänomene: Die Beobachtungen des Lichteinfalls
seien weit überzeugender »als die scharfsinnigen, aber durch nichts
erwiesenen antiquarischen Erläuterungen eines Heyne oder Winckel-
mann, welche jene Glorie bei den heidnischen Gottheiten von ihren
Stirnbinden […] ableiten wollten«.135
Die Bibelhermeneutik und die empirische Naturforschung bildeten
also zwei Varianten induktiv-positiven Wissens, die distinkte Spiel-
arten der Aufklärung aktualisierend fortschrieben, aber dieses Erbe
geschichtspolitisch verschleierten oder verabsolutierten. Während der
restaurative Klerus bemüht war, die historische Exegese rückwirkend
von der Aufklärung abzukapseln, verstanden sich die liberalen Natur-
forscher als deren Alleinerben, diesem Prozess entsprach die Festle-
gung der Aufklärung auf Rationalismus, Naturrecht und Newton’sche
Mechanik.
Die Französische Revolution läutete das Ende der aufgeklärten
Wissenschaft vom Menschen ein,136 in der die Naturalisierung der
Geschichte und die Historisierung der Natur vielfältig verflochten
gewesen waren;137 die Wissenschaft vom Menschen zerbrach in natur-
und humanwissenschaftliche Segmente, die ihre eifersüchtig gehegten
Zuständigkeitsbereiche scharf gegeneinander abzugrenzen began-
nen.138 Die geschichtspolitischen Rochaden des frühen 19. Jahrhun-
134 Ebda.
135 Ebda.
136 Bödeker (Hg.), Die Wissenschaften vom Menschen.
137 Vgl. Fn. 106.
138 József Szabadfalvi, A magyar észjogi iskola [Die ungarische Vernunft-
rechtsschule], in: Ajt 50 (2009), 17-44; Anna Petrasovszky, Szibenliszt
Mihály természetjoga különös tekintettel az államra [Mihály Szibenliszts
Naturrechtstheorie, mit besonderer Berücksichtigung seiner Staatslehre],
Dissertation Universität Miskolc 2011; Klabouch, Osvícenské právní nauky
v českých zemích, 331. Ein Vergleich der Rezensionen von naturrechtli-
chen Werken in juristischen Blättern wie der Zeitschrift für österreichische
Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzeskunde und Zeitschriften wie
dem Časopis pro katolické duchowenstwo oder der Wiener Theologischen
Zeitschrift zeigt, wie sehr der im späten 18.
Jahrhundert bearbeitete gemein-
same Problembezirk der Geschichte der Religion (Vertrag/ʺʩʸʡ) sowie der
Sitten und des Handels (Tauschwertabstraktion) ausfaserte: Die Frage nach
der Moral als Grundlage der Vergemeinschaftung, der »officia erga alios«,
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513