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245Positivität
und Restauration
bewusst. Sie agierten zugleich als Zensoren, Berufsliteraten und so-
zial desintegrierte Bohemiens, deren Lebenswandel nicht den Wer-
ten entsprach, die sie proklamierten. Die Selbstwidersprüche, die sich
aus dieser Rollenkonstellation ergaben, führten zu einem Maskentanz
zwischen den Institutionen; diese Spannungen sublimierte die Funk-
tionärsbohème in den Scherzsozietäten des Vormärz wie der Lud-
lamshöhle, Spielwiesen des Absurden und Frivolen, die den gemein-
nützigen Anspruch und die Rituale der josephinischen Freimaurerei
travestierten.155
Die Selbstdesavouierung des politischen Subjekts, die dem restaura-
tiven Staatsverständnis entsprach, war im ästhetischen Feld schon längst
vielfältig durchbrochen. Der Klassizismus fungierte ja als Bildspender
antispekulativer Objektivität, als Leitbild epistemischer Tugenden
für all jene Wissenschaften, die sich im Modus einer repräsentierten,
aber nicht praktizierten Interdisziplinarität, gleichsam als Buchbin-
dersynthese, in den Jahrbüchern der Literatur arrangiert fanden. Den
Sammlern vaterländischer Altertümer wie dem Wiener Romanisten
Ferdinand Wolf, die sich nach Johann Gottfried Herder und Jacob
Grimm richteten, genügte der Klassizismus nicht mehr, ihnen galt er
als fremdländische und kastenmäßige Elitenästhetik.156 Die von Emp-
155 Vgl. Lechner, Eine Ästhetik der Zensur, 289, 286-288 (Ludlamshöhle). Zu
den Scherzgesellschaften als Kontrafaktur der Logen Bauer, La realité, ro-
yaume de Dieu, 44.
156 Vgl. Wolf, Über die Romanzenpoesie der Spanier, 1-3: »Vor ungefähr siebzig
Jahren hätte sich ein Akademiker oder Universitätsprofessor noch beleidigt
gefunden durch die bloße Zumuthung, auch der Volksliteratur seiner Na-
tion seine gelehrte Thätigkeit zuzuwenden, die er viel würdiger angewandt
glaubte auf die Untersuchung über einen altgriechischen Topf oder eine la-
teinische Partikel; selbst die Gebildeten waren so sehr in Vorurtheilen befan-
gen, daß sie Volkspoesie für gleichbedeutend mit Bänkelsang und pöbelhaf-
ten Gassenhauern hielten und vornehm verachteten […]. Diese Unkenntniß
und Verachtung der volksthümlichen Literatur waren die Folge theils einer
auf die Spitze getriebenen Einseitigkeit der gelehrt-humanistischen Rich-
tung, indem man achtlos die duftigen, frischen Waldblumen des heimischen
Bodens zertrat, um schöne Petrefacte oder Marmorbüsten aus fernen Zeiten
und fremden Ländern auszugraben; theils der allen Selbstbewußtseins be-
raubten knechtischen Versunkenheit der Völker selbst […]. [D]em Donner
der Kanonen von Austerlitz und Jena antworteten die ›Stimmen der Völker
in Liedern‹, mit dem Schlachtruf der Befreiungskriege erklangen wieder die
alten Heldenlieder von den Nibelungen und vom Cid, und mit dem Siege
der nationalen Selbständigkeit über die Universalmonarchie war auch in
der Literatur der Sieg des volksthümlichen Prinzips über das französisch-
klassische entschieden.« Ebda., 51: »Die Mittelstände hatten sich damals
auch in Spanien – wenn auch weniger durchgreifend und minder scharf, als
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513