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250 Wissenskulturen des Vormärz
von Leibniz’ Rechtsphilosophie, die hier geboten wird, ergänzt Zim-
mermanns Strategie, die gedeihliche Wirkung von Bolzanos Denken
für den Vielvölkerstaat zu betonen: Der Subtext der Universalisierbar-
keit und Allgemeingültigkeit unveränderlicher Vernunftwahrheiten
durchzieht Zimmermanns Leibniz-Auslegung.
Auch der gemaßregelte Bolzano-Schüler Josef M. Fesl, der nach
dem Skandal am Priesterseminar von Leitmeritz / Litoměřice jahrelang
im Wiener Servitenkloster interniert gewesen war, strich Bolzanos
Universalienrealismus hervor. Als Fesl 1849 die von ihm herausge-
gebenen Schriften Bolzanos in einer feierlichen Sitzung der Kaiser-
lichen Akademie überreichte, sprach er von der Gegenwart als einer
Zeit »kräftigst aufstrebender und ihrer Besonderheit sich bewusster
Nationen«.168 Nie sei Bolzano, »dessen Größe gerade in der Bewälti-
gung jedes blos subjectiven oder psychologischen Standpunctes liegt«,
aktueller gewesen, Fesl empfahl Bolzanos Lehre geradezu als Allheil-
mittel für den habsburgischen Gesamtstaat, als Fundament einer Wis-
senschaft des »Einheitlichen und allgemein Menschlichen«.169
Die Theoriepolitik, die im Zuge der Thun-Hohenstein’schen Uni-
versitätsreform ins Werk gesetzt wurde, verfolgte mehrere Ziele: Da-
mals ging es darum, Österreichs Ort im größeren Deutschland neu
zu bestimmen und den idealistischen Systemarchitekturen eine eigen-
ständige und ebenbürtige Alternative entgegenzusetzen. Zudem galt es
die Quellen der Revolution von 1848 trockenzulegen, welche angeb-
lich im »rationalistischen« und »spekulativen« Denken lagen, um zu-
gleich eine übersubjektive Philosophie für das sprachlich und re
ligiös
heterogene Gesamtvaterland zu verankern.170 Hier entstand in der
Rückschau die angeblich zutiefst österreichische Leibniz-Wolff’sche
»Staatsphilosophie«. Ihr Antiidealismus entsprach der postrevolutio-
nären Situation ebenso wie der Heterogenität der Monarchie, zudem
lieferte diese »Staatsphilosophie« den damals erwünschten Distinkti-
onsgewinn gegenüber dem größeren Deutschland, dessen politischer
Strahlkraft und angeblicher wissenschaftlicher Vorreiterrolle sich auf
diese Weise eine autarke Überlieferung entgegensetzen ließ.
168 Michael Josef Fesl, [Schreiben an die Akademie bei Überreichung von
Bolzanos Werken], Sitzung vom 17. October 1849, in: SKAW 2 (1849), 156-
162, 156-157.
169 Fesl, [Schreiben an die Akademie], 156-157.
170 Franz L. Fillafer, Hermann Bonitz. Philologe, Mitschöpfer der Universi-
tätsreform, in: Mitchell G. Ash u. a. (Hg.), Universität – Politik – Gesell-
schaft. 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch in das neue Jahrhundert,
Göttingen 2015, 189-196.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513