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263Die
aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen
klärten Agrarschriftsteller wie der niederösterreichische Lehensvogt
Joseph Prokop von Heinke prägten eine spezifische Lesart des Ei-
gentumserwerbs, die sich aus der Naturgeschichte der bürgerlichen
Gesellschaft speiste.23 Nach dieser Auffassung waren die Bauern nicht
mehr Dienstpflichtige ihres Grundherren, deren Untertänigkeit sich
aus einem uraltem Gefolgschaftsverhältnis ergab, sondern Erbpächter,
die durch ihre Abgaben und Leistungen einen ursprünglichen Kauf-
vertrag erfüllten, also seit Jahrhunderten auf das volle Eigentum ihres
bewirtschafteten Grundes hinarbeiteten.24 Diese Sichtweise löste auch
eine Neubewertung der Adelsgüter im Staatsgefüge aus: Für die auf-
geklärten Lehensrechtler, Beamten und Advokaten waren diese Güter
keine originären Herrschaftsträger mehr, ihre Rechte waren Resultat
einer Usurpation oder einer widerrufbaren Übertragung von Befug-
nissen, die mit der Etablierung des Lehenswesens eingetreten war.25
23 Joseph Prokop von Heinke war der Sohn des böhmischen Lehensvogts und
Mitarbeiters Kaunitz’, der als Hofrat in der Böhmisch-österreichischen Hof-
kanzlei federführend das maria-theresianische staatskirchliche System ausge-
arbeitet hatte, vgl. Wurzbach 8 (1862), 223.
24 »›Die Abgaben der Grundholden an den Gutsherrn sind Zinsen eines unbe-
zahlten Kaufschillings.‹ Dieser Satz, wenn man auf das Ganze des Entste-
hens des Untertanenverhältnisses hinsieht, wie steht er dem gegenüber, was
der klassische Hüllmann hierüber in seinem Werke über den Ursprung der
Stände in Deutschland sagt? –– Rechtlich mag diese Idee wohl seyn, aber
ist das Rechtliche, das Ideale, wohl auch immer historisch wahr? Ist der
obige Satz, wie der Verfasser glauben machen will, urkundlich erwiesen??«
[Joseph von Hormayr,] [Rez. v.] Julius F. Schneller, Staatengeschichte des
Kaiserthums Österreich, IV, Grätz 1819, in: JbL 13 (1821), 31-51, 43. Joseph
von Puteani, Über das Eigentumsrecht der böhmischen Obrigkeiten auf die
Gründe ihrer Unterthanen. Ein Wort zu seiner Zeit, Deutschland 1788, 9:
»Die Frondienste, flüsterte man sich zu, sind eine Gattung Zinsen, welche
der Obrigkeit von dem Eigenthum gebührt, das ihr auf die Gründe ihrer
Unterthanen zukommt […].«
25 Vgl. Joseph Prokop Freiherr von Heinke, Handbuch des Nieder-Öster-
reichischen Lehenrechtes, I, Wien 1812, 3, Fn. i (»Satrapen-Republik« des
Sesostris und Kyros als Urbild des Deutschen Reiches; Lehensstruktur als
Vergleichsgröße für den Organismus des »Kalmücken-Kaisertums« und für
das osmanische tımar-System; Mackenzies Reisebeschreibung der Muskogee
und Algonquin wird mit Tacitus’ Germania und Caesars Gallienwerk abge-
glichen). Laut Heinke eiferte die katholische Kirche für die fürstliche Macht,
die in den frühmittelalterlichen Volksversammlungen die Oberhoheit an sich
riss, und durch die Errichtung des Lehenbandes die »deutsche Freyheit«
unterdrückte, Heinke, Handbuch, 5-11. Das Lehensband bleibe stets aus der
relativen Kriegsdienstpflichtigkeit der Lehensempfänger erklärbar, ebda., 12-
14, vgl. Johann C. Majer, Germaniens Urverfassung, Hamburg 1798; Julius
A. Renner, Handbuch der allgemeinen Geschichte. Zweyter Theil, welcher
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513