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266 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
verwaltung beschäftigt. Gemeinsam mit anderen aufgeklärten Beamten
zielte Kübeck auf »die Entwicklung einer neuen großen Klasse freier
und betriebsamer Grundbesitzer und die Uebertratung der Macht des
Feudalen Geschlechtsadels auf den großen, jedermann zur Erwerbung
offenen Grundbesitz«.32
Im gleichen Atemzug zeigt Kübeck die kolossale Relevanz der
Grunduntertänigkeit auf. Sie berührte ganz konkret die Einrichtung
der Patrimonialgewalt: In den alten Erbländern der Monarchie bil-
deten ja die adeligen Grundherrschaften die untersten Instanzen der
Verwaltung und die Rechtspflege. Sobald nun das Untertänigkeits-
verhältnis von den aufgeklärten Historikern und Juristen zu einem
privatrechtlichen Vertrag umgeprägt wurde, ließ sich aus diesem Pro-
zess eine Verstaatlichung der Patrimonialgewalt ableiten. Womit man
zuvor nur geliebäugelt hatte, war für Kübeck ein glasklares Desiderat:
Man müsse die »Patrimonialgerichtsbarkeit« und die »politischen
Funktionen« der Herrschaft entziehen und den »Bezirksbehörden«
übertragen.33 Ins selbe Horn stieß wenig später Carl Joseph von
Pratobevera.34 Pratobeveras Laufbahn ähnelt jener Kübecks: Beide
entstammten dem kleinstädtischen Handwerks- und Kaufmannsmi-
lieu und nutzten geschickt die Aufstiegschancen, welche der Behör-
denapparat einer auf die Herrschaftslogik des Habsburgerstaats ver-
pflichteten Funktionselite bot, die sich aus jungen Beamten aus allen
Ländern der Monarchie zusammensetzte. Pratobevera brachte es als
Sohn eines schlesischen Gewürzhändlers zum Hofrat an der Obersten
Justizstelle, dem Höchstgericht der Erbländer, und wurde späterhin
Vizepräsident des niederösterreichischen Appellationsgerichts.
Als Pratobevera 1815 in seiner juristischen Zeitschrift, den Materia-
lien für Gesetzeskunde und Rechtspflege in den österreichischen Staaten,
auf die Patrimonialgerichtsbarkeit zu sprechen kam, bezeichnete er sie
mit einer Schlüsselformulierung als »übertragenen Wirkungskreis«35:
Wenn die Grundherrschaften Aufgaben im Rahmen der Rechtspflege
und Verwaltungstätigkeit ausübten, so stellten diese Befugnisse »kein
32 Kübeck, Tagebücher, I/1, 93.
33 Ebda., 94.
34 Zu Pratobevera vgl. Kap. VI.7.
35 Carl Joseph von Pratobevera, Ueber die Gränzlinien zwischen Justiz- und
politischen Gegenständen, und das Verhältniß der Gerichtshöfe zur lan-
desherrlichen Macht, in: Mat 1 (1815), 1-55, 49. Vgl. auch Franz Joseph
Schopf, Die Rechte auch Pflichten der Grundherren und der Wirkungskreis
der grundobrigkeitlichen Wirthschaftsämter im Lande Böhmen, 3 Bde., Prag
1847, Bd. III, 9, 272.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513