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267Die
aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen
Privat-Eigenthum« dar, vielmehr seien sie »nur auf eine stets widerrufli-
che Weise von dem Regenten mit dem Besitze gewisser Güter verknüpft
worden«.36 Daraus ergab sich die scharfe Trennung von Gerichtshoheit
und Grundherrlichkeit: Wer keine Abgaben und Dienste mehr leiste, sei
kein Untertan, auch wenn er noch der Gerichtsbarkeit seines früheren
Grundherren unterstehe.37 Mit vielen anderen aufgeklärten Beamten
teilten Heinke, Kübeck und Pratobevera ein gemeinsames Fernziel: Kü-
beck hat es 1803 in seinem Tagebuch formuliert, wenn er schreibt, dass
es darum gehe, »die Persönlichkeit der Unterthanen ganz zu emanzipie-
ren, sie aller bürgerlichen Rechte teilhaftig zu machen und die Macht
der Regierung, bis zu ihren untersten Verzweigungen zu befestigen«.38
In diesem Tagebucheintrag stellte Kübeck eine bemerkenswerte
Verknüpfung her: Die Erringung der allgemeinen Rechtsfähigkeit und
bürgerlichen Freiheit aller Untertanen, so deutet er an, hänge kausal
mit der Befestigung der Staatsmacht »bis zu ihren untersten Verzwei-
gungen« zusammen. Kübeck macht hier nicht viel Federlesens: Der
Staat ist der Wegbereiter des Fortschritts, er führt die überfälligen
Reformen durch, die den Untertanen zum Bürger aufwerten. Für
Pratobevera und Kübeck verfügte der Staat über das unangefochtene
Fortschrittsmonopol, besonders der grundbesitzende Adel war le-
diglich ein Stolperstein auf dem Königsweg zur Emanzipation. Diese
liberal gesinnten Beamten machten aus ihrem Herzen keine Mörder-
grube, aber ihre glühende Verehrung für Joseph II. war nicht frei von
performativen Widersprüchen. Zwar verliehen diese frühliberalen
Beamten Joseph II. die »unvergängliche Sternenkrone«39, das Dia-
dem des Volkskaisers und verehrten seine eigenhändigen Dekrete wie
»Goldkörner«40, durchlöcherten aber zugleich Josephs protektionis-
36 Pratobevera, Ueber die Gränzlinien, 49.
37 Moritz Drdacki, Ueber den Begriff Gutsunterthan, in: ZföRg (1844) 2, 350-
373, 359; ders., Ueber das Holzungsrecht der Unterthanen in Galizien, in:
ZföRg (1831) 2, 281-297; Michael Stöger, Über den Begriff der Gutsun-
terthänigkeit nach österreichischen Gesetzen, in: ZföRg (1834) 2, 123-136.
38 Kübeck, Tagebücher, I/1, 93.
39 Moritz von Stubenrauch, Einige Worte zur Erläuterung des § 16 des allg.
bürg. Gesetzbuches, in: ZföRg (1844), 1, 193-198, 193.
40 Eduard Herbst, der spätere liberale Minister, arbeitete ab 1843 in der für das
»Untertänigkeitsverhältnis« zuständigen Abteilung der Hofkammerproku-
ratur und erinnerte sich der Handbillette Maria Theresias und Josephs II.
als »Goldkörner«, die er und seine Kollegen unter vergilbten Akten bargen,
um sie wie ein »Evangelium« zu verehren: »Aus den Papieren sprach eine
Liebe zum Volke, eine Erkenntniß seiner Bedeutung, die uns begeisterte.«
Die Handbillets, schreibt Herbst, »erläuterten uns den Staatsgedanken«:
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513