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268 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
tisches Regime: Sie weichten sukzessive die drakonischen Strafen auf,
die Joseph für Schmuggel vorgesehen hatte, und entschärften die De-
krete, welche die Zehentverweigerung, die bäuerliche Verheim lichung
von Braueinkünften (die Schwärzung der Maische, des geschrote-
ten Malzes, das für das Biergären und Spirituosenbrennen benötigt
wurde) und die Vernachlässigung der Bewirtschaftungspflicht streng
ahndeten.41
Die Tiefenwirkung der aufklärerischen Agrarpolitik im frühen
19. Jahrhundert zeigt sich an zwei ihrer beachtlichsten strukturellen
Konsequenzen für die böhmisch-österreichischen Erbländer. Zum
einen besaß die Beamtenschaft damals nicht mehr die alleinige Gestal-
tungs- und Auslegungsvollmacht des Reformprozesses, rivalisierende
Erben des Reformwerks traten auf den Plan: Hier sind vor allem die
aufgeklärten Konservativen unter den adeligen Grundherren zu nen-
nen. Zum anderen erwies sich der eingeleitete Prozess, der die bürger-
liche Gleichheit proklamierte, als irreversibel und bewirkte die Auf-
weichung des Staatsprimats, aus dem er begründet worden war. Dabei
fällt auf, dass der Staat das ihm von Kübeck und Pratobevera zugewie-
sene Fortschrittsmonopol durch seine eigene Gesetzgebung, konkret
durch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811, demontierte.42
Kübecks Patentrezept für die Monarchie war ein gouvernmentaler
Liberalismus: Er suchte die adelige Patrimonialgewalt auszuhebeln
und beabsichtigte zugleich, die agrarkapitalistische Bodenmobilisie-
rung voranzutreiben. Dieses Leitbild lehnten die aufgeklärten Kon-
servativen unter den adeligen Großgrundbesitzern rundweg ab, be-
riefen sich dabei aber auf dieselbe Quelle wie Kübeck, nämlich auf die
josephinischen Agrarreformen.43 Der aufgeklärt-konservative Adel,
»So wurden wir Josephiner im Praktikantendienste der Finanz-Prokuratur.«
Friedrich Schütz, Eduard Herbst, in: NFP, 8. 12. 1880, Nr. 5848, 1-3, 1.
41 Hieronymus von Scari, Findet die Abstiftung eines an der Gränze wohnen-
den Unterthans, welcher sich mit Schwärzung ausländischer Waren abgibt,
auch gegenwärtig noch Statt?, in: ZföRg (1840) 1, 9-25; Stubenrauch, Einige
Worte, 193.
42 Zur Genese, Gestalt und Wirkabsicht des ABGB ausführlich Kap.VII.
43 Christoph Thienen-Adlerflycht, Graf Leo Thun im Vormärz. Grundlagen
des böhmischen Konservatismus im Kaisertum Österreich, Graz 1967, 124-
128. »Divide et impera ist der Wahlspruch all jener, die im Trüben zu fischen
suchen. Und so wie die absolute Regierung dahin strebte eine innige Vereini-
gung zwischen Grundherren und Untertanen zu verhindern, um einem ge-
meinschaftlichen Widerstand gegen ihre bureaukratischen Willkürtendenzen
zuvorzukommen, so sucht jetzt jene Partei, welche Anarchie zu verbreiten
wünscht, bei der nur sie selbst gewinnen kann, auf alle Art Zwiespalt zwi-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513