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271Die
aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen
liche Staatskirchensystem und der »Bauernschutz«48 – als illegitime
Verletzungen der bürgerlichen Freiheit sowie der Gleichheit vor dem
Gesetz angeprangert wurden. Das betraf die selbstherrliche josephi-
nische Politik gegenüber dem kirchlichen Eigentum49 ebenso wie die
Rechtspflege auf dem Lande.
Damals benützten »privilegierte« Gruppen das ABGB, um frühere
Rechtsverletzungen durch die maria-theresianische und josephinische
Beamtenschaft aufzurollen und die universale behördliche Rhetorik
des allgemeinen Besten als Camouflage sehr konkreter und partikula-
rer Interessen zu entlarven. Die Anwälte adeliger Häuser opponierten
etwa gegen die positive Diskriminierung, gegen den speziellen Schutz,
den die Behörden den Bauern gewährten,50 besonders die Untertans-
advokaten waren diesen Juristen ein Dorn im Auge: Diese von der
kaiserlichen Kammerprokuratur entsandten Advokaten hatten Bauern
bei Prozessen gegen ihre Grundherren unentgeltlich zu vertreten.51
Geschickt deklarierten nun Anwälte fürstlicher Familien im Vormärz
gewisse Liegenschaftskomplexe als Lehensgüter, um die Tätigkeit der
Untertanenadvokaten zu vereiteln: Nach dem Lehensstatut war die
örtliche Kammerprokuratur ja verpflichtet, bei Prozessen gegen die
Belehnten in Vertretung des Lehensherrn – also des Landesfürsten –
als Mitbeklagter aufzutreten: Daraus ergab sich ein Interessenkon-
flikt, hätte doch die Prokuratur damit die Belange des Klägers und
des Beklagten wahrzunehmen gehabt.52 So torpedierten die Anwälte
fürstlicher Familien die Tätigkeit der Untertansadvokaten, indem sie
sich der Kollisionsregeln bedienten, die eigentlich aufgestellt worden
waren, um für Klagen von Untertanen auf Staatsgütern gegen ihren
Grundherrn, den Monarchen, Vorsorge zu treffen.53
48 Vgl. Helmut Gebhardt, Advocatus Subditorum. Zur Einrichtung der Un-
tertansadvokaten von 1750 bis 1848, in: Kurt Ebert (Hg.), Festschrift zum
80. Geburtstag von Hermann Baltl, Wien 1998, 139-154.
49 Vgl. Heinke, Handbuch, 12-14. Karl Martells Konfiskation der Kirchengü-
ter, mittels der er seine Hausmacht schaffen konnte, wird aus »Staatsnoth-
durft« gerechtfertigt.
50 Vgl. Kap. VI.7.
51 Vgl. Hofdekret, 11. 10. 1810: Wirkungskreis der Hofkammer, dann der Ca-
meral und Bancal-Behörden, in: Fortsetzung der von Josef Kropatschek ver-
faßten Sammlung der Gesetze, hg. v. Wilhelm Gerhard Goutta, Bd. XXVII,
Wien 1813, 27-73.
52 Vgl. am Beispiel der lobkowitzschen Herrschaft Stattenberg bei Windisch-
feistritz / Slovenska Bistrica im Kreis Cili / Celje die faszinierende Fallstudie
von Gebhardt, Advocatus Subditorum, 152.
53 C. V., Findet die politische Repräsentanz in einem Processe zwischen Herrn
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513