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288 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
In seinen Gutachten und Schriften über das Bildungswesen der
Monarchie warb Sonnenfels zwar zunächst dafür, durch eine limitierte
Absolventenzahl an den Hochschulen das »Gleichgewicht der Stände«
aufrechtzuerhalten. Nur ein System zentraler Volluniversitäten und
herabgestufter Provinzlyzeen, so meinte er 1771, würde es erlauben,
die Ausbildung der Bevölkerung adäquat zu steuern und eine verhee-
rende Akademikerschwemme zu vermeiden.101 Nach 1790 wandte sich
Sonnenfels jedoch in aller Schärfe gegen Unkenrufe, die ein Übermaß
an Aufklärung befürchteten – »Überkultivierung« war das Stichwort
in den Beratungen von Rottenhans Studienrevisionskommission, der
auch Sonnenfels angehörte102 – und suggerierten, zuviel Bildung stifte
die Bürger zur Revolution an: Die Staatsverwaltung müsse »die Nation
auf die höchste Stufe der Bildung zu führen«, keinesfalls dürfe sie, so
Sonnenfels im Jahr 1797, zur Ȁngstlichkeit einer kleinlichen Polizey-
anstalt« herabsinken, die nur »kärglich zumesse, was sie höchstens
nicht versagen könne«. Die Zeit habe die Jakobinerschnüffelei »sieg-
reich Lügen gestraft«, daher müsse die größtmögliche »bürgerliche
Freiheit« die Glückseligkeit der »gutmüthigsten Nation« garantieren,
die dafür wiederum dem Monarchen ihren Dank zolle.103
Laut Sonnenfels konnte allein ein durchlässiges Bildungswesen dem
»glänzendsten Vorzug« der österreichischen Verfassung Rechnung
tragen, der ja darin bestehe, dass »die Ansprüche der untern Klassen
auch zu den obersten Staatsämtern«104 unbeschränkt seien. Zugleich
wünschte sich Sonnenfels aber, die strikte Regierungsaufsicht über die
101 Joseph von Sonnenfels, Über den Nachtheil der vermehrten Universitäten
[1771], in: ders., Gesammelte Schriften VIII, 243-272, 262; Grete Klingen-
stein, Akademikerüberschuß als soziales Problem im aufgeklärten Absolu-
tismus. Bemerkungen über eine Rede Joseph von Sonnenfels’ aus dem Jahre
1771, in: dies. u. a. (Hg.), Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur
Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum 20.
Jahrhun-
dert, Wien 1978, 165-204.
102 Vgl. Kap. IV.1 u. IV.4 oben.
103 Sonnenfels formulierte seine Denkschrift aus dem Jahr 1797 gegen Johann
Melchior von Birkenstocks Warnungen vor einer »Exaltirung« des »Nazi-
onalgeists«: Es sei ohnehin müßig, so Sonnenfels, »Scheidelinien der Bil-
dung« durch »die so mannigfaltig und rege sich verlaufenden Verrichtungen
und Geschäfte aller Klasen und Ämter« zu ziehen, Sonnenfels, Einige Be-
merkungen zu den zwey ersten Abhandlungen über das künftige National-
Bildungssystem ÖStA, HHStA, Studienrevisionshofkommission, Kt. 26.
Zur Überfeinerung Theo Jung, Zeichen des Verfalls. Semantische Studien
zur Entstehung der Kulturkritik 18. und frühen 19.
Jahrhundert, Göttingen
2012, 210-211.
104 Sonnenfels, Einige Bemerkungen.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513