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289Merkantilismus
und Vernunftrecht
Universitäten zu erhalten. Eben dagegen machte Martini als Berater
Leopolds II. mobil, Martini suchte universitätspolitische Freiräume
zu eröffnen, wobei er sich an physiokratische Konzepte anlehnte.105
Unter Leopold II. wollte Martini die organistorische Autonomie und
Dezentralisierung der Universitäten durchsetzen. Damit sollten die
Hochschulen vom Gängelband der Staatsregie befreit werden, das
Sonnenfels ihnen anlegte, zu diesem Zweck wollte Martini lokale Uni-
versitätsprotektoren einsetzen: Als solche konnten örtliche Bischöfe
oder die Landstände ebenso fungieren wie obere Gerichtsinstanzen,
also die jeweiligen Landrechte und Magistrate. Das Herzstück der
universitären Selbstbestimmung bildeten für Martini weiterhin die
Doktorenkollegien, die sich aus den Absolventen der Universitäten
rekrutierten: Auf diese Weise wäre die Universität über die Selbstver-
waltung durch die urbanen Gebildeten – Ärzte, Pfarrer und Advoka-
ten – mit der sie umgebenden Stadt verflochten geblieben.106
Mittels der Lernfreiheit und der kollegialen Selbstverwaltung der
Universitäten wollte Martini die staatlich-merkantilistische Regie über
die Universitäten sabotieren, was ihm den Ruf als »Frühliberaler«
eingetragen hat.107 Zugleich beklagte Martini freilich die mangelnde
Moral der Studenten: Er forderte Universitätsandachten und Beicht-
register sowie das Vorlesen nach den staatlich sanktionierten Lehrbü-
chern.108 Auch im Bereich der Lehrplangestaltung zogen Sonnenfels
und Martini nicht an einem Strang: Sonnenfels wollte die Beschäfti-
gung mit Geschichte und Ästhetik im Rahmen der anivisierten »Na-
tionalerziehung« forcieren, indem er diese Fächer in den juristischen
und philosophischen Studienplänen integrierte. Der Vorschlag wurde
von Gottfried van Swieten, dem Hofbibliothekspräfekten, Textdichter
von Haydns Schöpfung und Präses der Studienhofkommission unter-
stützt, von Martini aber erfolgreich hintertrieben.109
Der Konflikt zwischen Merkantilisten und den Vernunftrechtlern
setzte sich in einer Reihe von verästelten Debatten in den 1790er Jah-
105 Vgl. Anthony Mergey, L’État des Physiocrates. Autorité et décentralisa-
tion, Aix-en-Provence 2010.
106 Vgl. Fillafer, Bonitz.
107 Sigmund Adler, Die Unterrichtsverfassung Kaiser Leopolds II. und die fi-
nanzielle Fundierung der österreichischen Universitäten nach den Anträgen
Martinis, Wien 1917, 11, 87, 91.
108 Ernst Wangermann, Aufklärung und staatsbürgerliche Erziehung. Gott-
fried van Swieten als Reformator des österreichischen Unterrichtswesens,
1781-1791, Wien 1978, 98.
109 Ebda., 42, 68-114.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513