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311Der
Gesamtstaat als Wirtschaftsunion
Maria Theresias Regierungsantritt stand unter keinem guten Stern.
Kriegsbedrängnis und leere Kassen erzwangen die Optimierung des
Steueraufkommens und die Steigerung der militärischen Schlagkraft.
Die Amtsträger der Kaiserin bombardierten einander mit Denkschrif-
ten und Gegengutachten über die Frage, ob die Vereinheitlichung
der Gesamtmonarchie auf dem Wege des ökonomischen Zusammen-
schlusses der Länder herbeizuführen wäre. 1775 wurde nach jahrelan-
gen Debatten ein von Philipp Graf Cobenzl ausgearbeiteter Zolltarif
verkündet, der die böhmisch-österreichischen Erbländer zu einem
einheitlichen Handelsraum zusammenschloss.197 Joseph II. setzte die
Beseitigung der Binnenzölle fort, die seine Mutter begonnen hatte, er
hob lokale Niederlagsrechte und städtische Marktprivilegien auf. 1783
wurde Galizien in das gemeinschaftliche Zollgebiet eingebunden, so
wuchs die Westhälfte der Monarchie in zollpolitischer Hinsicht zu
einem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammen.198
Das homogene Zollregime entsprach dem merkantilistischen Para-
digma, das auf dem Fernziel der imperialen Bewirtschaftung sämtlicher
Rohstoffe und Humanressourcen aus allen Provinzen beruhte. Die
einheitliche Natur erlaubte es, einen Gesamtstoffwechsel des Empire
aufzubauen, in dem alle Staatsschätze, seien es Naturprodukte oder
erziehbare Untertanen, als transformierbare und ineinander übersetz-
bare Werte fungierten.199 Aus dieser Vision speisten sich die Begrün-
dungen für die Umgestaltung der Monarchie zu einem einheitlichen
Wirtschaftsraum, die obligaten behördlichen Schalmaientöne, sei es
bei der Zoll-Deregulierung, sei es bei der Abschaffung der Zunftpri-
vilegien, waren dabei stets dieselben: Der allgemeine Aufschwung,
die steigende Qualität und Vergünstigung der Produkte, kurz – all
die Vorzüge der »freien Concurrenz« seien die Früchte der lancierten
Politik.
Was blieb, war der Zweifel, ob wirklich alles Gold war, was glänzte.
Waren die Untertanen tatsächlich Nutznießer, nicht vielmehr Leidtra-
gende dieser Entfesselung und Belebung der Wirtschaftskraft? Die Ver-
einheitlichung des Zollregimes ließ ein neues Genre zivilisatorischer
Ratgeberliteratur entstehen, die den Untertanen, zumal den ärmeren
197 Beer, Die Zollpolitik. Tirol und die Vorlande blieben damals außen vor.
198 1784 erfolgte die Aufhebung der Zollbarriere zwischen dem Königreich
Ungarn und Siebenbürgen.
199 Eva Faber, Beziehungen – Gemeinsamkeiten – Besonderheiten. Das öster-
reichische Küstenland und Galizien in den 70er und 80er Jahren des 18.
Jahr-
hunderts, in: Walter Leitsch u. a. (Hg.), Polen und Österreich im 18. Jahr-
hundert, Warszawa 2000, 53-78.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513