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312 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
Schichten, eine einheitliche Erwerbsethik verpassen wollte: Faulpelze,
Schmarotzer und Müßiggänger galt es in regsame Selbstversorger zu
verwandeln, Gewerbsfleiß und Diensteifer sollten ihren Werthorizont
bestimmen, arbeitsscheue und »verstockte« Bevölkerungsschichten
galt es auf diese Weise zu nützlichen Untertanen umzuerziehen.200
Diese Blaupause zielte auf ein einheitliches Sozialkonzept für die
gesamte Monarchie. Das entsprach wiederum der Liberalisierung des
Verkehrs und Verzehrs, wie sie die Schöpfer des Allgemeinen Bür-
gerlichen Gesetzbuches (ABGB) betrieben.201 An Vorbehalten und
Gegenstimmen mangelte es nicht: Ortskundige Beamte und Gelehrte
warnten davor, die Länder der Monarchie über einen Kamm zu sche-
ren. Seit der Französischen Revolution verbanden sich diese Einwände
mit Beschwörungen der Pluralität des Habsburgerreichs als nach außen
geeinte, im Inneren aber vielgestaltige Erblandenation. Wie ich schon
am Beispiel Joseph von Hormayrs nachgewiesen habe,202 sollte die He-
terogenität der Monarchie damals als Revolutionsprophylaxe dienen:
So plädierte der Hofkanzleirat Ferdinand von Fechtig, ein gebürtiger
Breisgauer, im Jahr 1796 dafür, die Mannigfaltigkeit der habsburgi-
schen Länder zu erhalten, da in Frankreich »die Revolution wegen der
Gleichförmigkeit der Bevölkerung überall raschen Eingang gefunden
hatte«.203
Hofrat Fechtigs Plädoyer traf den Grundtenor der aufgeklärten
Montesquieu-Anhänger in der Verwaltung. Gegen das merkantilisti-
sche Verwertungsregime veredelbarer Staatsstoffe wandten sich vor
allem jene Beamte, die für die Beibehaltung verschiedener Landesge-
pflogenheiten, Produktionstypen und Verfassungsformen eintraten.204
200 Klemens Kaps, Ungleiche Entwicklung in Zentraleuropa. Galizien zwi-
schen überregionaler Verflechtung und imperialer Politik (1772–1914),
Wien 2015, 205, 214; Roszdolski, Agrar- und Steuerreform, 167-168; vgl.
auch Johannes Feichtinger, Modernisierung, Zivilisierung, Kolonisierung
als Argument. Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten
Habsburgermonarchie, in: Christof Dejung, Martin Lengwiler (Hg.), Rän-
der der Moderne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte (1800-
1930), Köln 2016, 147-181.
201 Vgl. Kap. VI.3-VI.5.
202 Vgl. Kap.I.3.
203 Harrasowsky, Codex Theresianus V, 14, Anm. 9 (§ 16).
204 Vgl. Grete Klingenstein, »Jede Macht ist relativ«. Montesquieu und die
Habsburger Monarchie, in: Herwig Ebner u. a. (Hg.), Festschrift Othmar
Pickl zum 60. Geburstag, Graz 1987, 307-323, dies., Staatsverwaltung und
kirchliche Autorität, 176-178; Harm Klueting, Die Lehre von der Macht
der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der »politischen Wis-
senschaft« und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert, Berlin 1986,
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513