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314 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
hinzu, schließlich folgten in den Jahren 1825 /1826 Tirol und Vorarl-
berg.207 Das wirft neues Licht auf die vermeintliche gegenaufkläreri-
sche Zeitenwende der 1790er Jahre. Die Regierung von Kaiser Franz
wurde häufig als Umschwung von der Aufklärung in die Reaktion
beschrieben, für die Ökonomie ist das ebenso wenig stichhaltig wie für
die anderen in diesem Buch erschlossenen Bereiche.
Mit der scharfen Gegenüberstellung von Aufklärung und Reaktion
gerät man auf den Holzweg, man verbaut sich die Analyseperspektive.
Was sich um 1800 vollzog, war keine Beseitigung des aufgeklärten
Reformprogramms, es wurde vielmehr redimensioniert und auf die
böhmisch-österreichischen Kernländer beschränkt. In Galizien etwa
zog sich der Staat aus der Gewerbeförderung, die er zuvor mittels
Ansiedelungskrediten gefördert hatte, ebenso zurück, wie aus der
Agrarreform. Die Gutsherrschaften durften ihre Untertanen wieder
züchtigen, die patrimoniale Prügelstrafe wurde neuerlich eingeführt.
Die unter Maria Theresia und Joseph II. für die gesamte Monarchie
angestrebte Umwandlung der Arbeitsdienste in Kapitalzahlungen
erklärte man zu einer privatrechtlichen Angelegenheit.208 Zugleich
wurde dem grundbesitzenden galizischen und ungarischen Adel wie-
der mehr Gehör geschenkt, der die naturgegebene Widerspenstigkeit
und Trägheit der Bauernschaft auf seinen Gütern hervorstrich: Hier
bremsten die Grundherren die Arbeitsleistung ihrer Grundunterta-
nen weiterhin durch die Dienste, die sie ihnen abverlangten, stellten
aber die dadurch bedingten schwachen Erträge als Folge bäuerlicher
»Faulheit« und »Halsstarrigkeit« dar. Unterdessen herrschte in der
böhmisch-österreichischen Kernzone die Situation, die ich schon ge-
schildert habe: Investitionsfreudige bürgerliche Geschäftsleute zogen
in den landtäf lichen Gutsbesitz ein, die Bannrechte wurden zu ent-
schädigungspflichtigen Eigentumsansprüchen umgedeutet und unter
den Vorzeichen der liberalisierten Erwerbsgesellschaft ausgebeutet.209
Wie ließ sich nun aber der Widerspruch zwischen dem Regime
komplementärer Spezialisierung und dem Versprechen allgemeiner
Wohlstandssteigerung lösen, den ich oben skizziert habe? Die Qua-
dratur des Kreises konnte nur gelingen, indem man das Gesamtbild des
207 Franz Baltzarek, Integration im Habsburgerreich, in: Eckart Schremmer
(Hg.), Wirtschaftliche und soziale Integration in historischer Sicht, Stutt-
gart 1996, 213-220, 214-216.
208 Kaps, Ungleiche Entwicklung, 222, 230; Roman Rozdolski, Untertan und
Staat in Galizien. Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II., hg. v.
Ralph Melville, Mainz 1992, 67.
209 Vgl. oben Kap. V.2.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513