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320 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
Mit dem maria-theresianischen Urbarium sollten die vielerorts flie-
ßenden Grenzen zwischen herrschaftlichen Gütern und bäuerlichem
Land zu einem Raster scharfkantiger Besitzstrukturen gerinnen.219 Da-
mit war ein Projekt zur Disziplinierung der Bauernschaft verbunden:
Die wilde, gewohnheitsrechtliche Nutzung von Waldland, Schwemm-
und Weidegründen sowie zerstreuten Rodungsgrundstücken, auf de-
nen Hackfruchtbau getrieben wurde, würde aufhören und geordneten
Bewirtschaftungsverhältnissen weichen. Aus Hirten und Waldbauern
sollten Getreidebauern werden, die als steuerpflichtige Leistungsträger
dem Staat sichere Einkünfte lieferten.220
Die josephinischen Gesetze verbrieften die persönliche Freiheit
der Bauern, das Recht auf Eheschließung, selbstständige Berufswahl
und die freie Verfügung der Bauernschaft über ihre bewegliche Habe
wurde festgeschrieben. Die Resultate der maria-theresianischen und
josephinischen Agrargesetzgebung waren zwiespältig: Wie der Agrar-
experte János Festetics 1810 bemerkte, wurde das maria-theresianische
Urbarium mit Ungarn auf ein Königreich angewandt, dessen Rechts-
leben »durchaus von jenen Ländern verschieden ist, von welchen diese
Urbarial-Gesetze hergenommen wurden«.221 Mit dem Urbarium war
eine neue Kategorie entstanden, die sogenannten »extraurbarialen«
Territorien, die weder bäuerliches noch herrschaftliches Land waren.
So ermöglichte es das Urbarium den Grundherren, ihre Abgaben auf
diese extraurbarialen Ländereien auszudehnen. Die Bauernschaft sah
sich in ihren gewohnheitsmäßigen Nutzungsrechten bedroht, woge-
gen sie sich aber vor den Komitatsgerichten und bei Hof zur Wehr zu
setzen verstand.222
219 János Varga, Typen und Probleme des bäuerlichen Grundbesitzes in Un-
garn, 1767-1848, Budapest 1965, 136-142.
220 András Vári, Sieben Bilder des ungarischen Bauern, in: Daniela Münkel,
Frank Uekötter (Hg.), Das Bild des Bauern. Selbst- und Fremdwahrneh-
mungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2012, 245-267,
247-249. Dementsprechend dürftig war der Gesindeschutz ausgeprägt, den
Geistlichen wurde eingetrichtert, sie möchten dem Gesinde von der Kanzel
seine Pflichten einschärfen, Éva H. Balázs, Die Lage der Bauernschaft und
der Bauernbewegungen (1780-1787). Zur Bauernpolitik des aufgeklärten
Absolutismus, in: AH 3 (1956), 293-327, 324-325.
221 Johann von Festetics, Verhältniß der Bauern in Ungern zu ihren Gutsherren
[1810], in: Johann v. Csaplovics (Hg.) Topographisch-Statistisches Archiv
des Königreichs Ungern I-II, Wien, 1821, Bd. I, 418-425, 421 (zuvor im Hes-
perus 9, 1810); Ember, Mária Terézia úrbérrendezése és az államtanács, 144.
222 Vgl. Anton von Viroszil, Das Staats-Recht des Königreichs Ungarn, Pest
1865, I, § 3; Antal Cziraky, Conspectus Juris Publici Regni Hungariae ad
Annum 1848, Viennae 1851, Bd. I, § 34 (Observantia Regni).
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513