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328 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
Binnenzoll-Grenze schwoll seit den 1830er Jahren merklich an, die
Zivilisierungsattitüde, die Befreiung Ungarns aus dem »Zustand mit-
telalterlicher Feudalität«252, wie sie Chorinsky schon 1806 formuliert
hatte, verband sich hier mit nicht ganz uneigennützigen Erwägungen:
Dem Wunsch nämlich, einen kaufkräftigen ungarischen Kundenstock
für erbländische Produkte zu gewinnen.253 So wurde die Wirtschaft
zum Zugpferd für die geplante »vollständige Vereinigung und Ver-
schlingung der Interessen Ungarns mit den übrigen Staaten«254 der
Monarchie.
Diese »Verschlingung« ließ sich nur realisieren, indem man einen
geschlossenen Binnenmarkt schuf, für eben diese Strategie verstand
Kübeck Metternich zu erwärmen. Das um 1840 lancierte Vorhaben
hatte freilich einige Schönheitsfehler: Es kam zehn Jahre zu spät,
das Programm gemäßigter liberaler Ökonomen in Ungarn wie Graf
Széchenyis war damals bereits vom ungarischen »Schutzverein« über-
flügelt worden, der die Belebung des heimischen Gewerbes und der
Industrie durch patriotisches Konsumverhalten und protektionistische
Maßnahmen propagierte.255 Die Anhänger des Schutzvereins bemän-
gelten zu Recht, dass Kübecks Plan Ungarn zwar den Zugang zum erb-
ländischen Markt ermöglicht hätte, das Gesamtgebiet des Habsburger-
reichs aber weiterhin durch die von Wien aus regulierten Außenzölle
bestimmt geblieben wäre. Das Kübeck’sche Projekt des Binnenmarkts
sollte ja im Inneren der Monarchie Ersatz für den Beitritt zum Deut-
schen Zollverein schaffen, dem das Kaisertum ferngeblieben war.256
252 Sieghart, Zolltrennung und Zolleinheit, 31.
253 Vortrag Carl von Kübecks, 28. 1. 1845: »Immer wird es darauf ankommen,
daß der Arbeitstätigkeit als der Quelle des Wohlstandes und Reichtums der
Bevölkerung auch in Ungarn die Möglichkeit verschafft wird, wirkliche
Werte zu erzeugen, das heißt den Arbeitsprodukten die Möglichkeit lukra-
tiver Absatzwege zu verschaffen.« Abgedruckt in László Szőgyény-Marich,
Emlékiratai [Memoiren], 2 Bde., Budapest 1903, I, 128-143, 130; FHKA,
Präsidialakten 769 ex1845.
254 Vortrag Carl von Kübecks, 28. 1. 1845, in: Szőgyény-Marich, Emlékiratai, 135.
255 Domokos Kosáry, Kossuth és a Védegylet. A magyar nacionalizmus törté-
netéhez [Kossuth und der Schutzverein. Zur Geschichte des ungarischen
Nationalismus], Budapest 1942, 14-17; Miklós Mann, Trefort Ágoston.
Élete és működése [Ágoston Trefort. Leben und Wirken], Budapest 1982,
36-39; Hanns Schlitter, Aus Österreichs Vormärz, Bd. III: Ungarn, Zürich
1920, 43 (Metternichs Einschätzung des Schutzvereins als »Hilfskasse zur
Beförderung der Revolution«).
256 Kübeck an Metternich, 9. 11. 1841, FHKA, Geheimprotokolle, 1372 /1841.
Vgl. die ausgezeichnete Arbeit von Věra Vomáčková, Österreich und der
deutsche Zollverein, in: Hist 5 (1963), 109-146, 138-140; [Jan Hulakovský],
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513