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337Naturrechtspraxis
und Empire-Genese
Justieren von Details, die Subsidiaritäts-Akrobatik, die neue Quellen
für die ergänzende Auslegung des jeweiligen Rechtsakts erschloss.
Die schwarze Legende über den Vormärz entstand im Kontext der
Universitätsreform Leo Thun-Hohensteins in den 1850er Jahren. Die
Juristen des Vormärz wurden als »Naturrechtler« und Eigenbrötler
verspottet, die von den wissenschaftlichen Fortschritten der deut-
schen Rechtswissenschaft unberührt geblieben waren. Seit den 1840er
Jahren war die Sicht auf das herrschende Studiensystem bestimmt
vom plakativen Gegensatz zwischen dem rückständigen Österreich
und dem freien und national gereiften größeren Deutschland. Die
»Neugestaltung«4 der Monarchie nach 1848, das Projekt der Moderni-
sierungsdiktatur des Neoabsolutismus, beruhte wesentlich darauf, den
Vormärz als rückständig-unwissenschaftlich und kryptorevolutionär
darzustellen. Von Deutschland schienen die reichen Segnungen intel-
lektuellen Fortschritts auszugehen, sowohl in Fragen der Organisation
und Lehrpraxis, mit dem zu etablierenden Fakultäts-, Habilitations-
und Seminarsystem, als auch im Hinblick auf den wissenschaftlichen
Standard einer neuen Zeit. Angesichts dieser Verheißungen des geis-
tigen Aufbruchs galt die vormärzliche Intelligenz der Monarchie als
beschränkt, ja bemitleidenswert, ihre wissenschaftlichen Leistungen
waren seichte Gelegenheitsprodukte.5
Diese Sichtweise speist sich wesentlich aus der polemischen His-
torisierung der Naturrechtstradition nach 1848. Im Rahmen der
Thun-Hohenstein’schen Universitätsreformen fiel den Vertretern der
historischen Rechtsschule römischer Prägung, den Pandektisten im
Gefolge Joseph Ungers, die Aufgabe zu, die österreichische Rechts-
wissenschaft rundum zu erneuern. Für die Pandektisten war die pro-
grammatische Desavouierung des Vormärz in dreifacher Hinsicht von
Vorteil: Erstens ernteten sie als Garanten wissenschaftlicher Innova-
tion Vorschusslorbeeren; zum Zweiten versprachen die Pandektisten,
die österreichische Rechtslehre an die vorbildhafte deutsche Jurispru-
denz anzuschließen und damit im Feld der Wissenschaft zu erreichen,
was auf dem Terrain der Politik seit 1848 anrüchig war: die Integration
der Monarchie in ein größeres Deutschland.6 Drittens schließlich stell-
4 Carl von Czoernig, Oesterreich’s Neugestaltung, 1848-1858, Stuttgart 1858.
5 Fillafer, Bonitz.
6 Joseph Unger, [Rez. v.] Leopold von Hasner, Philosophie des Rechts und
seiner Geschichte in Grundlinien, Prag 1851, in: MRS 4 (1851), 408-417, 409:
»Seit dem Jahre 1848 aber, welches für die geistige Entwicklung Österreichs
von entscheidender und unverrückbarer Bedeutung ist, drang in alle Dici-
plinen das mächtige Streben, sich zu deutscher Wissenschaft und deutscher
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513