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338 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
ten Joseph Unger und seine Schüler ihre »historische Betrachtungs-
weise« dem gleichermaßen revolutionären und unwissenschaftlichen
Naturrecht gegenüber, dem die österreichischen Juristen des Vormärz
angeblich verfallen waren.7
Hans Lentze hat in seinen brillanten Arbeiten über die Thun-
Hohenstein’sche Universitätsreform zu einer Revision dieses Vormärz-
Verdikts aufgerufen. Die unter Thun ans Ruder gelangte Juristenge-
neration um Joseph Unger hatte es erfolgreich verstanden, ihr eigenes
positiv-historisches Arbeiten als wissenschaftlich erstklassig und
wertfrei zu präsentierten, während sie die angeblich durch und durch
»naturrechtliche« Jurisprudenz vor 1848 abkanzelte. Hans Lentze
merkte an, er habe bei seinen Recherchen überrascht festgestellt, »daß
die Studienhofkommission vor 1848 weit ›voraussetzungsloser‹ war als
Graf Thun, so daß selbst entschiedene Liberale als Dozenten an der
Wiener juridischen Fakultät Fuß fassen konnten«.8 Helmut Slapnicka
wiederum hat angedeutet, wie das von Lentze bemängelte Geschichts-
bild entstand, das die Rechtswissenschaft des Vormärz doppelt margi-
nalisierte: Im Neoabsolutismus nach 1848 galten »die Juristen des Vor-
märz als Verführer der akademischen Jugend […], der nachrückende
Liberalismus identifizierte sie mit dem System, das sie vertraten, und
tat sie als verknöchert und reaktionär ab«.9 So kam es zu der merkwür-
digen widersprüchlichen Reputation der Juristen vor 1848 als Rebellen
und Duckmäuser.
Erkenntniß zu erheben, und man erkannte, daß die gewünschte Einigung mit
Deutschland sich vor allem im Geist und in der Erkenntniß vollziehen müsse,
ehe von einer weiteren die Rede sein könne.«
7 Adolf Exner, Die Lehre vom Rechtserwerb durch Tradition nach österrei-
chischem und gemeinem Recht, Wien 1867, III-IV (»[…] Zeit des Natur-
rechtskultus und der wissenschaftlichen wie politischen Absperrung Oester-
reichs«).
8 Hans Lentze, Graf Thun und die voraussetzungslose Wissenschaft, in: Hel-
mut J. Mezler-Andelberg (Hg.): Festschrift Karl Eder zum siebzigsten Ge-
burtstag, Innsbruck 1959, 197-209, 198; ders., Graf Thun und die deutsche
Rechtsgeschichte, in: MIÖG 63 (1955), 500-521; ders., Die Universitätsre-
form des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962. Vgl. zur Einord-
nung Feichtinger, Fillafer, Leo Thun und die Nachwelt.
9 Helmut Slapnicka, Beamtenausbildungsanstalten oder Nährboden für Kritik
und Aufruhr: Die Juristenausbildung in Prag und Olmütz im Vormärz, in: Bo
34 (1993), 29-46, 45. Exzellentes prosopografisches Gruppenbild der Lehren-
den des Vormärz bei Gunter Wesener, Zum »juridisch-politischen Studium«
an österreichischen Lyzeen und Universitäten in der Zeit von 1782 bis 1848
–
Studienordnungen und Lehrämter, in: Richard Gamauf (Hg.), Festschrift für
Herbert Hausmaninger zum 70. Geburstag, Wien 2006, 305-327.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513