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355Der
Kantianismus in der Rechtswissenschaft
sich Grillparzers Freundeskreis Kants Metaphysische Anfangsgründe
der Rechtslehre vornahm, nicht ohne sich auch Leibniz’ prästabilier-
ter Harmonie und den servierten Butterbroten zu widmen.68 Kants
Rechtslehre war bei den Juristen der habsburgischen Länder um 1800
in aller Munde, Franz von Zeiller selbst hat sich in seinem Lehrbuch
des Natürlichen Privatrechts wie auch in seinen Staatsrechtsvorlesun-
gen an der Universität Wien eingehend mit Kant befasst.
Zeillers Beschäftigung mit Kant wurde vielfach unterschlagen, ebenso
häufig schaumschlägerisch übertrieben, Zeiller zum Kant-Jünger sti-
lisiert.69 Dagegen soll hier gezeigt werden, welche Bedeutung die kanti-
anische Lehre für die Verwissenschaftlichung der Gesetzestechnik und
Normermittlung, für den Rechtsbegriff und für die materiale Gestal-
tung der bürgerlichen Freiheitsansprüche hatte. Die Bedeutung von
Kants Lehre für die Juristen in den habsburgischen Ländern lag darin,
dass sie das Wolff’sche Naturrecht ablöste. Zeillers eigenes Studium
in Wien war vom Naturrecht in der Manier Christian Wolffs geprägt
gewesen, an das sich Carl Anton von Martini angelehnt hatte. Schon
in den 1770er Jahren hatten Broschüren für und wider Martinis syllo-
gistische Darstellungsweise Partei ergriffen, die es angeblich erlaubte,
die naturrechtsmäßige Moral im mathematischen Sinne als Funktion
lückenlos aus der untrüglichen Erkenntnis des Guten abzuleiten.70
Vier Dimensionen von Kants Wolffianismus-Kritik waren für Zeiller
relevant: Kants Revision der Wolff’schen Systematik und Methodik,
die Umprägung des Normgehalts des Rechts von der Pflicht zur Frei-
heit, seine Subversion des Wolff’schen Tugendstaates, und schließlich
68 Franz Grillparzer, Selbstbiographie [1853] und Reisetagebücher, hg. v. Ri-
chard Hoffmann, Wien 1946, 36-38.
69 Ernst Swoboda, Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Leh-
ren Kants. Eine Untersuchung der philosophischen Grundlagen des öster-
reichischen bürgerlichen Rechts, ihrer Auswirkung im einzelnen und ihrer
Bedeutung für die Rechtsentwicklung Mitteleuropas, Graz 1926, 29, 30-33,
47, 61, 290.
70 Vgl. [Johann T. Sattler, Johann F. Mieg, Johann M. Afsprung,] Freymüthige
Briefe an Herrn Grafen V. über den gegenwärtigen Zustand der Gelehrsam-
keit der Universität und der Schulen zu Wien, Frankfurt 1774, 90 u. 93. Da-
gegen [Joseph Mader,] Über einige Vorzüge des Naturrechts, des Herrn Karl
Anton von Martini […], Wien 1774, 31-35. Zu Wolffs »Identifikation von
euklidisch-geometrischer und aristotelisch-syllogistischer Methode« Wolf-
gang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche
Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18.
Jahrhundert, München
1970, 186.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513