Seite - 356 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Bild der Seite - 356 -
Text der Seite - 356 -
356 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
die Kritik der Kantianer an der wolffianischen Vermengung von Recht
und Tugend.
Wolffs Theorie über die reale Wesens- und Attributenerkenntnis
der jedem Ding inhärenten Begriffe (res /realitas) beruhte auf der
angenommenen Harmonisierbarkeit logischer und transzendental-
ontologischer Prädikate durch den Verstand, den Wolff als das »Ver-
mögen deutlicher Begriffe« bezeichnete. Von ihren Kritikern wurde
Wolff und Martini nun angekreidet, dass die Normen, die sie in ihren
Systemen aus der Natur ableiteten, eben keine »deutlichen Begriffe«
waren, sie enthielten nicht den Beweis ihrer Möglichkeit, der nach
Wolff erst das Begreifen des »Wesens« einer Sache erlaubte. Wenn
nun aber die Erkenntnisgegenstände überwiegend willkürliche, nicht
notwendige Bestimmungen enthielten, dann zerfalle die Demonstra-
tion in ein Sammelsurium von Nominaldefinitionen, die eben nach
Wolff kein philosophisches Wissen generieren könnten.71 Auf dem
schlüpfrigen Terrain der Normkonstitution machten sich Wolff und
Martini der Vermengung von Seins- und Sollenaussagen (ƫƤƲнơƠƱƨư
Ƥѳư ыƪƪƮ ƢоƬƮư) schuldig. Die Ableitbarkeit von Normen aus Tatsa-
chenaussagen stand neben der Identifikation normativer Aussagen als
Bestimmungen des Naturbegriffs, damit geriet das Aufstellen natur-
rechtlicher Normen zum Zirkelschluss.72
Kant entkleidete den Naturbegriff seiner Wertbestimmung, er kappte
die Finalursachen der Natur und die Wahrheitsfähigkeit von Zwecken.
Die »bürgerliche Verfassung«, so heißt es 1793 in Kants Über den Ge-
meinspruch: Das mag für die Theorie richtig sein, taugt aber nicht für
die Praxis, sei ein »Verhältnis freier Menschen«. Dieses Verhältnis be-
gründe eine Zwangsordnung, deren Normadressaten sich eben keinem
übergeordneten »empirischen Zweck« – etwa der Glückseligkeit oder
moralischen Veredelung – unterworfen fänden. Das gelte schon des-
halb, weil »in Ansehung dessen«, worin dieser empirische Zweck be-
stünde, »die Menschen gar verschieden denken, sodass ihr Wille unter
kein gemeinschaftliches Prinzip, folglich auch unter kein äußeres, mit
jedermanns Freiheit zusammenstimmendes Gesetz gebracht werden
71 Christian Wolff, Philosophia rationalis, sive Logica […] Discursus Praelimi-
naris, Francofurti; Lipsiae 1728, § 7; ders., Vernünfftige Gedancken von der
Menschen Thun und Laßen, zur Beförderung ihrer Glückseligkeit [1720], 4.
verm. Aufl., Frankfurt; Leipzig 1733, § 23; Jan Schröder, Wissenschaftstheo-
rie und Lehre der praktischen Jurisprudenz auf deutschen Universitäten an
der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979, 137.
72 Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht, 128.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513