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360 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Mit Kant beschrieb Zeiller die sibisufficientia, die Selbständigkeit und
den freien Genuss des Eigentums, als Gegenstand der staatlichen Si-
cherheitsgarantie. Zugleich machte Zeiller kein Hehl daraus, dass der
Zweck des Staates nicht die Erhaltung der natürlichen und unverlier-
baren Rechte des Menschen war, die »Urrechte« seien verwirkbar und
veränderbar, »Humanität« und »Klugheit« machten es häufig unum-
gänglich, im Staate »tief eingewurzelte Anomalien« zu dulden.89
Die »ursprüngliche Gleichheit« sei, so Zeiller, eine »Abstraktion
der Schriftsteller«, die aber »practischen Nutzen« besitze, weil sie
lehre, »in jedem Menschen, so niedrig auch seine Lage in dem bür-
gerlichen Leben sein mag, die Menschheit zu ehren, ihn als ein mora-
lisches Wesen unverletzbar und heilig zu halten«.90 Das »werktätige
Vernünfteln« des Volks über den »Ursprung der obersten Gewalt«
galt Kant als unstatthaft, und auch Zeiller hielt das Volk für unfähig,
die »rechtliche Entstehung des Staates« zu begreifen, derlei Grübelei
führe nur zu Aufmüpfigkeit.91 Ohne Umschweife lehnte Zeiller die
Volkssouveränität ab, erlegte dabei aber – wie auch Martini und Paul
Anselm Feuerbach – dem Monarchen die Pflicht auf, die bürgerlichen
Fundamentalrechte zu achten, widrigenfalls sei den Untertanen der
passive Ungehorsam gestattet.92 Die Maximen des »Republikanis-
mus« und der »Publizität«, die Kant 1795 anlässlich des preußisch-
französischen Friedens von Basel aufstellte, gingen an Zeillers Werk
spurlos vorüber: Kant hatte den König von Preußen angesichts des
entstehenden Völkerbundes angehalten, sein Land so zu regieren, als
ob es eine Republik sei, als müssten die Gesetze des Landes allgemein
zustimmungsfähig sein.93
Zeiller war ein loyaler, dynastietreuer Gelehrter, ihm wurde die
Erziehung der jüngeren Brüder von Kaiser Franz anvertraut. Zeil-
lers »Kantianismus« machte ihn nicht zum verkappten Republikaner
oder schwärmerischen Weltbürger. Indem Zeiller Kants Anregungen
auf technisch-methodischer Ebene fruchtbar machte, gelang es ihm,
89 Franz von Zeiller, Nothwendigkeit eines bürgerlichen, einheimischen Privat-
Rechts, in: Jährlicher Beytrag zur Gesetzeskunde und Rechtswissenschaft in
den Österreichischen Erbstaaten, Bd. 1, Wien 1806, 1-70, 61.
90 Zeiller, Das Natürliche Privat-Recht, § 50.
91 Kant, Metaphysik der Sitten. Erster Theil: Metaphysische Anfangsgründe der
Rechtslehre, AA VI, 318; Hofmeister, Bürger und Staatsgewalt, 1018, 1025.
92 Hofmeister, Bürger und Staatsgewalt, 1026.
93 Reinhart Koselleck, Die Verzeitlichung der Begriffe [1997], in: ders., Be-
griffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und
sozialen Sprache, hg. v. Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2006, 77-85, 83.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513