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362 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
dende Anstoß für die Verwissenschaftlichung und Professionalisie-
rung der Rechtsschöpfung aus. Erschließen lässt sich das aus dem
Gesamtdesign der Gesetzesmaterien, die man unter Zeillers Regie für
kodifikationsfähig hielt: In seinem Vortrag vom Dezember 1801 erhob
Zeiller den Gesetzgeber zum »anwendenden Erklärer« der Vernunft.96
Es sei, so Zeiller, unzulässig, die »Freiheit der Untergebenen« durch
das bürgerliche Gesetz »ohne Not« zu beschränken, »freie Tätigkeit«
sei »das Streben eines jeden vernünftigen Wesens«, ohne sie
könne der Mensch Zufriedenheit und Glückseligkeit, deren Begriff
nur von seinen eigenen, nicht von fremden Vorstellungen und Nei-
gungen abhänge, nimmermehr erreichen. Der Gesetzgeber sei zwar
Vater seiner Untertanen […]; aber vollbürtige Kinder dürfen nicht
am Gängelbande geführt werden.97
Zeiller verstand es, das durch die Französische Revolution diskreditierte
Naturrecht seines öffentlich-rechtlichen Charakters zu entkleiden,
ohne seinen normativen Gehalt als allgemeines Recht preiszugeben,
das wissenschaftlich ermittelbar und – vermeintlich – metapolitisch
war, weil es Wohlfahrtszwecke, Tugendvorschriften und Vernunft-
maximen hinter sich ließ. So gelang es Zeiller, die »freie Tätigkeit« als
scheinbar überpolitischen Grundsatz aufzustellen.
Gesetzestechnisch schlug sich diese Verwissenschaftlichung des
Kodifikationsprozesses in Zeillers Bemühen nieder, »natürlich«-präpo-
sitive Normbestände aus dem Gesetzbuch auszusieben. Die Autono-
misierung der Wissenschaft mit ihrer für die Gesetzgebung erforder-
Klabouch, Osvícenské právní nauky v českých zemích; Jaromír Čelakovský,
O účasti právníkův a stavů ze zemí českých na kodifikaci občanského práva
rakouského [Die Beteiligung der Juristen und Stände aus den böhmischen
Ländern an der Kodifikation des österreichischen Zivilrechts], Praha 1911;
Christian Neschwara (Hg.) Die ältesten Quellen zur Kodifikationsgeschichte
des österreichischen ABGB. Josef Azzoni, »Vorentwurf zum Codex There-
sianus« – Josef Ferdinand Holger, »Anmerckungen über das österreichische
Recht« (1753), Wien 2012; Wesener, Zum »juridisch-politischen Studium«
an österreichischen Lyzeen und Universitäten.
96 Ofner, Ur-Entwurf I, 6: »Das Recht ist kein Machwerk der Menschen und
die Machthaber sind keine Rechtsschöpfer, keine Rechtgeber. Alles Recht
gibt ursprünglich die Vernunft. Der Gesetzgeber ist das Organ, der an-
wendende Erklärer der rechtlichen Vernunft«, ebda., 23, 464, Bd. II, 542;
Hofmeister, Bürger und Staatsgewalt, 1019-1020 (»Aussagen« und »Sanktio-
nieren« der Rechte als Aufgaben des Gesetzgebers).
97 Ofner, Ur-Entwurf, I, 5.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513