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377Privatisierung
der ständischen Herrschaftsteilhabe
indem sie den Monarchen darauf aufmerksam machten, dass die Hof-
räte der Obersten Justizstelle gefährliche Theorien predigten, galt
ihnen der Staat doch als Einrichtung zum Schutze allgemeiner bürger-
licher Rechte.154 Die Vertreter der Stände beriefen sich auf Montes-
quieu und Burke, um sich dem Monarchen als Verbündete im Kampf
gegen die Revolution anzudienen, dafür wurde sie 1791 von Keeß
lakonisch abgefertigt: »Der Adel vermag gegen das Volk […] weder
sich, geschweige denn den Thron zu retten«155, er untergrabe vielmehr
die monarchische Gewalt.
Die Konfrontation zwischen Sonnenfels und den Juristen der Ge-
setzgebungskommission gipfelte in der Positivierung eines vermeint-
lich überpolitischen liberalen Privatrechts, das die Kodifikation des
öffentlichen Rechts auf ein totes Geleis abdrängte. Ein vergleichbares
Resultat ergab sich auch aus dem Scharmützel der Stände mit den
Hofräten der Obersten Justizstelle, die sich wechselseitig als Revo-
lutionäre denunzierten: Die Auseinandersetzung mündete schließlich
in die Privatisierung öffentlich-rechtlicher Ansprüche. In der Präsi-
dialkonferenz, für die Keeß sein Gutachten über das Ständevotum
vorbereitet hatte, gelang es Graf Johann Rudolf Chotek, Keeß’ Votum
zurechtzurücken, indem er seine repräsentationspolitische Komponente
tilgte. Chotek, der ja 1789 aus Protest gegen den durch die Fiskal- und
Bodenreform drohenden Rechtsbruch als Hofkanzler zurückgetreten
war, amtierte mittlerweile als Hofkammerpräsident und war zugleich
einer der eloquentesten Verordneten der böhmischen Landstände, die
Leopold II. ebenfalls ihre Desiderien unterbreitet hatten.156 Chotek
machte zunächst reinen Tisch. Die Stände seien – entgegen einem ver-
breiteten Mißverständnis, das sie selbst genährt hatten und das Keeß
nun gegen sie einsetzte – keineswegs »Repräsentanten des Volkes«.157
Man könne sie dazu machen, freilich sei zuvor zu klären, ob die beste-
154 Bibl, Die niederösterreichischen Stände und die Französische Revolution,
87-90, 93.
155 Ebda., 90.
156 Vgl. Kap. V.1. Das von Chotek ausgearbeitete Minderheitenvotum forderte
ein dilatorisches Vetorecht der Stände für sämtliche Materien der böhmi-
schen Gesetzgebung, vgl. Jaromír Čelakovský, O učastí právníkův a stavů
ze zemí českých na kodifikaci občanského práva rakouského, 49-58, 51-52.
Vorzüglich Cerman, Chotkové, 375-386.
157 Bidermann, Verfassungs-Krisis, 79-80. So auch – sehr zur Genugtuung des
böhmischen Guberniums – im von Chotek vorbereiteten Minderheiten-
votum, Robert J. Kerner, Bohemia in the Eighteenth Century. A Study in
Political, Economic, and Social History with Special Reference to the Reign
of Leopold II, 1790-1792, New York 1932, 133-134.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513