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378 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
henden Landesverfassungen sich zu einer »förmlichen National- und
Volksrepräsentation«158 ausbauen ließen und ob dies wünschenswert
sei.
Keeß’ falsche Prämisse, dass die Stände Repräsentanten des Vol-
kes seien, führe ihn zur unhaltbaren Schlussfolgerung, der Monarch
könne die Zusammensetzung der Ständekörper eigenmächtig verändern.
Chotek lehnte die Beteiligung bürgerlicher Verordneter nicht rund-
weg ab, plädierte aber für eine Selbstergänzung der Stände, sie sollten
eigenständig ihre Repräsentationsbasis erweitern. Während Keeß die
»aristokratische Regierung« als die »verhaßteste« gebrandmarkt hatte,
gab Chotek zu bedenken, dass der von Keeß angestrebte Modus für
die Inklusion der Bürger und Bauern auf der »arithmetischen Volks-
zahl angemessenene« Parlamente hinauslaufe, auf die »demokratische
Repräsentation«.159 Das alles, so Chotek, gelte es reiflich zu bedenken,
bevor »die öffentliche Verwaltung eines monarchischen Staates den ihr
selbst am meisten gefährliche Satz: die Stände sind die wirklichen, die
echten Repräsentanten der Nation, durch Zwangsmittel aufstellt«.160
Choteks Votum vom Winter 1791 war wegweisend: Keeß’ Pläne zur
Ergänzung der Stände mit bürgerlichen und bäuerlichen Delegierten
verpufften unter Kaiser Franz, die zugleich lancierte Privatisierung der
ständischen Vorrechte schmälerte das freilich nicht. So kam es zu einer
doppelten Entleerung des ius publicum. Zeillers Innovation, durch
welche das Naturrecht seine anrüchige öffentlich-rechtliche Qua-
lität verlor, fand ihre Ergänzung im vorläufigen Rückzug der Stände
vom Souveränitätsdiskurs. Die Stände hielten zwar weiterhin ihre
Partizipationsrechte hoch, sie waren das konstitutionelle Volk, führ-
ten diese Ansprüche aber nunmehr auf quasi-private, schützenswerte
Eigentumsrechte zurück. Angesichts der revolutionären Eigentums-
umschichtung in Frankreich und des innenpolitischen Drohszenarios
der erweiterten Repräsentation erwärmten sich die Stände für das
ursprünglich zu ihrer Entmachtung und Entstaatlichung entwickelte
Modell der Privatisierung ihrer Souveränitätsrechte.161
158 Bidermann, Verfassungs-Krisis, 79-80.
159 Ebda., 42.
160 Ebda., 79-80.
161 Stollberg-Rilinger, Vom Volke übertragene Rechte?, 116; Gernot Kocher,
Höchstgerichtsbarkeit und Privatrechtskodifikation, 123-124; Bibl, Die nieder-
österreichischen Stände und die Französische Revolution, 84; Bidermann,
Verfassungs-Krisis, 36-37, 62 (Appell an den Monarchen, der »die Gerech-
tigkeit ehrt, das Eigentum schützt«).
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513