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379Privatisierung
der ständischen Herrschaftsteilhabe
Das hatte zur Folge, dass sich die ständische Selbstbehauptung auf
ein bestimmtes Feld verengte, auf jenes der Landtafelfähigkeit nämlich:
Hier bemühte man sich, bürgerliche und akatholische Eigentümer als
Mitberechtigte mittels des adeligen Vorkaufsrechts (Einstands-, Re-
traktrecht) von landständischen Liegenschaften fernzuhalten.162 Seit
den frühen 1790er Jahren befasste sich die Oberste Justizstelle immer
wieder mit dem ständischen Einstandsrecht, dem Vorkaufsrecht der
adeligen Standesgenossen. Die Judikatur blieb dabei schwankend, für
Niederösterreich wurde das Einstandsrecht 1791 aufgehoben, für Böh-
men 1807 nach zähen Nachverhandlungen bestätigt, wobei die Bür-
ger königlicher Städte ebenfalls die volle Erwerbsfähigkeit genossen
und das erbländische Pfandrecht lokale Eigentumsbeschränkungen
durchkreuzte.163
Die Plenarsitzungen der Obersten Justizstelle über das adlige Ein-
standsrecht sind für unsere Frage nach der Funktion der naturrecht-
lichen Normermittlung für die Gesamtmonarchie vor allem aus einem
Grunde ergiebig: Sie boten nämlich jenen Hofräten ein Forum, die
ihrer Skepsis gegenüber der voluntaristischen, auf Zweckrationalität
beruhenden Begründungslogik des natürlichen Rechts Luft machen
wollten. Diese Hofräte glossierten in ihren Voten auch die Voraus-
setzungen der Gesetzgebung: Sie arbeiteten die politischen Flucht-
linien der sich antirevolutionär und überpolitisch gerierenden Kodifi-
kationsarbeit heraus. Dabei verstanden es diese Kritiker, die stringente
Ableitbarkeit der allgemeinen Gerechtigkeit als Kunstgriff zu entlar-
ven: Das »Reich der Zwecke«164 war ein Resultat spezifischer und
162 Miloš Řezník, Das landespatriotische Programm der galizischen Stände.
Von der polnischen Tradition zur Etablierung eines neuen Landespatriotis-
mus, in: Trencsényi, Zászkaliczky (Hg.), Whose Love of Which Country?,
735-758, 752; Kocher, Höchstgerichtsbarkeit und Privatrechtskodifikation,
172-179; Bibl, Die niederösterreichischen Stände, 87, 93 (Gutachten Keeß’
über das Einstandsrecht); William D. Godsey, Adelsautonomie, Konfession
und Nation im österreichischen Absolutismus, ca. 1620-1848, in: ZHF 33
(2006), 197-239, 230, hier auch zum zweiten Brennpunkt der Selbstbehaup-
tung, der autonomen ständischen Kontrolle über das Inkolat und Indigenat,
also die Zulassung von nicht landesbürtigen Adelsfamilien.
163 Dazu hervorragend Bohumil Baxa, Inkolát (a indigenát) v zemích koruny
České, od roku 1749-1848 [Inkolat (und Indigenat) in den Ländern der
böhmischen Krone], Praha 1908.
164 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 433-
434: »Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung
verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil
nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so
wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen,
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513