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384 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
klärung verübten. Die Pandektisten haben, auf der Polemik Savignys
aufbauend,172 diese Gleichsetzung von Aufklärung und Naturrechtsju-
risprudenz etabliert und die Rechtswissenschaft des Vormärz mit tüch-
tigem Affektpleonasmus als rückständig, vom Ausland abgeschottet,173
als »exegetisch« und »naturrechtlich« attackiert, das ABGB auf natur-
rechtliche Normbestände gemustert und durch dogmatische Nachbe-
arbeitung überformt.
Die »naturrechtliche Kodifikation« war ein Topos, der von den
Kritikern des Gesetzes geprägt und nach 1848 im Rahmen der Reform
der juristischen Studien wissenschaftspolitisch aufgeladen wurde. Erst
im späten 19. Jahrhundert konnte man die Verdienste der Kodifikato-
ren mit Sicherheitsabstand einordnen, damals wurde das Verdikt über
die »naturrechtliche Kodifikation« positiv umgewertet, ohne es zu
hinterfragen. So nahm etwa der Rechtsreformer und spätere Justizmi-
nister Franz Klein die Hundertjahrfeier des ABGB im Jahr 1911 zum
Anlass, das Naturrecht zu preisen: Es habe mit dem ABGB ein Ge-
setzbuch für »vollsaftige, agile, rührige Wesen« geschaffen, für »Leute,
die mit gutbürgerlichem Denken und köstlichem praktischem Haus-
verstand ihre Geschäfte besorgen und ihrem Vorteile nachgehen, aber
auch andere leben lassen«.174 Nicht von ungefähr lobte Klein damals
das Naturrecht auch dafür, dass es einen »festen, von historischem
Gestrüppe und autonomischen Improvisationen« gesäuberten Boden
darstelle, auf dem sich »der Rechtsverkehr im ganzen Geltungsgebiete
des Gesetzes gleichmäßig und sicher abwickeln« ließ.175 Mit ihrer
Griffigkeit gaukelt die Formel »naturrechtliche Kodifikation« freilich
ein sachliches Realsubstrat vor, das sich als Scheingröße entpuppt.
Das ABGB umfasst gemein- und deutschrechtliche Elemente, die
sich mit Figuren des Naturrechts und des kanonischen Rechts,176 zu
rechtler Gustav Hugo, Friedrich Carl von Savigny, Der zehnte Mai 1788,
in: ZGR 9 (1838), 421-432.
172 Pio Caroni, Der unverstandene Meister? Savigny’s Bemerkungen zum
öster reichischen ABGB, in: Kurt Ebert (Hg.), Festschrift Hermann Baltl,
Innsbruck 1978, 107-122; Heinrich Demelius, Drei Pandektisten über das
österreichische ABGB, in: L 11 (1965) [Festheft Schönbauer], 287-301.
173 Dagegen v. a. Brauneder, Leseverein und Rechtskultur, 52-60, 105-106, 113,
121, 136-138, 142-143, 150, 154.
174 Franz Klein, Die Lebenskraft des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches,
in: Festschrift ABGB, Bd. I, 3-32, 5-6.
175 Ebda., 9.
176 Gunter Wesener, Zur Verflechtung von Usus modernus pandectarum und
Naturrechtslehre, in: Helmut Koziol (Hg.), Festschrift Franz Bydlinski
2002, Wien; New York 2002, 473-494; Reinhard Voppel, Der Einfluß des
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513