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386 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Das ABGB fußte auf der Vertrauenstheorie – das Gültigkeitsver-
trauen des redlichen und verständigen Erklärungsempfängers bestimmt
die Vertragsgeltung –, nicht auf der späterhin von der Pandekten-
wissenschaft dogmatisierten Willenserklärung; § 861 wurde von den
Pandektisten in den 1850er Jahren eine neue Bedeutung unterlegt,
indem behauptet wurde, er verweise auf eine Willensvereinigung. Er-
leichtert wurde diese Auslegung durch Zeillers innovative Lösung der
Offerentenbindung durch Zugang des Angebots (§ 862, Satz 2): Die
Bindungswirkung der Offerte widersprach dem Übertragungsmodell,
wurde aber von Zeiller im Sinne der »Sicherheit des Verkehrs und
der bürgerlichen Verhältnisse«183 ausgeführt. Schließlich vermied die
Endfassung des ABGB das Konsensualprinzip der derivativen Eigen-
tumsübertragung, sie forderte getreu dem usus modernus Titel und
Übergabe (von Mobilien), titulus und modus acquirendi.184
Unvoreingenommen lässt sich die Frage nach der juristischen Klein-
arbeit vor 1848 nur auf einer breiten Quellenbasis beantworten, hier-
für gilt es die selbstständigen Schriften der vormärzlichen Juristen und
ihre Zeitschriftenbeiträge, vor allem für das Flaggschiff der Jurispru-
denz jener Zeit, die Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit
und politische Gesetzeskunde, auszuwerten. Die Lektüre der vormärz-
lichen Gesetzeskommentare und Aufsatzserien Joseph von Winiwar-
ters, Franz Xaver Nippels und Michael Schusters fördert markante
Entwicklungen zutage: in der Zivilrechtsdogmatik wurden innovative
Lösungen für das Gewährleistungsproblem und die Schutzwürdigkeit
des Vertrauens auf die öffentlichen Bücher angebahnt,185 die Gestal-
tung der Einspruchsfristen und obrigkeitlichen Verständigungspflicht
bezüglich der grundbuchmäßigen Einverleibung neu gefasst,186 die
Regelungen des Verbotsirrtums und der Irrtumsfolgen für gutgläu-
bige dritte Erwerber fortgebildet,187 sowie neue dogmatische Ansätze
183 Zeiller, Commentar, Bd. III/1, 9; Franz-Stefan Meissel, De l’esprit de mo-
dération, 290.
184 Herbert Hofmeister, Die Grundsätze des Liegenschaftserwerbs in der öster-
reichischen Privatrechtsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert, Wien 1977,
22-24, 62-63, 135-137.
185 Ebda., 79.
186 Ebda., 119-121.
187 Zu Joseph Winiwarters Position, die dieser in Anlehnung an Savigny for-
mulierte, vgl. Monika Niedermayr, Rechtsprechung und Lehre vom Irrtum
gemäß § 871 nach dem ABGB 1811, in: Heinz Barta, Günther Pallaver
(Hg.), Carl Anton von Martini. Ein österreichischer Jurist, Rechtsgelehrter,
Justiz- und Bildungsreformer im Dienste des Naturrechts, Wien 2007, 260-
276, 270-271.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513