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395Rechtsstaat
und Gewaltenteilung im Vormärz
tion formulierte. Pratobevera glaubte nicht an das perpetuum mobile
eines einmal gut eingerichteten, selbsttätig abschnurrenden Systems
von Gesetzen.214 Hier zeigen sich Pratobeveras Anleihen bei Montes-
quieu, dessen Werke in den Jahren um 1800 ja Hausbücher der gebil-
deten Stände in den habsburgischen Ländern waren: Die Montesquieu-
Bewunderer begrüßten zunächst die Revolution in Frankreich, weil sie
den Despotismus zunichtemachte, übten aber bald darauf Kritik an der
Volkssouveränität und an der französischen Verfassungsgebung nach
abstrakten Vernunftprinzipien.215 In der Tat scheinen auch Pratobe-
vera und sein Freundeskreis den »Irrglauben« an die lex parsimoniae
minimalistischer Legistik auf die Idéologues und die Gesetzgebung
der Revolutionäre in Frankreich, besonders auf ihre überstürzten und
widersprüchlichen Verfassungsschöpfungen zurückgeführt zu haben.216
Laut Pratobevera waren weder die Richter bloße Subsumptionsauto-
maten, la bouche de la loi (§ 7 ABGB),217 noch die Beamten reine Exe-
kutivorgane, welche vorgefertigte Normen am Adressaten vollzogen.
Die Beamtenschaft musste die staatsbürgerliche Gleichheit erst aus
der ständisch und territorial zersplitterten Normschöpfung destillieren.
In der Habsburgermonarchie mit ihrer fragmentierten Souveränität war
es undenkbar, einen ausgeklügelten Gesetzesautomatismus ins Werk zu
setzen, daher fiel es nach Pratobevera den Beamten zu, die Überpersön-
lichkeit und Allgemeinheit der Normen zu gewährleisten. Von einer
systeminhärenten Selbstregulation des Ensembles der Gesetze konnte
214 Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, ü. v. Martin Halfbrodt, Hamburg
2016, 35-46.
215 Rudolf Vierhaus, Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wir-
kung als politischer Schriftsteller im 18.
Jahrhundert, in: ders., Deutschland
im 18. Jahrhundert, 9-32, 31-32; Ofner, Ur-Entwurf, II, 469 (»Allein die
Verschiedenheit des Klimas, der Bevölkerung, Verfassung und Kultur, der
Grad der religiösen, sittlichen und politischen Aufklärung, die herrschende
Erziehungsart und Beschäftigung, der Gemüthscharakter und Wohlstand
der Einwohner, kurz die Verschiedenheit der äußeren und inneren Ver-
hältnisse begründet auch eine Verschiedenheit der Rechtsverhältnisse, nach
welchen, wie schon der gelehrte und weise Kenner des Geistes der älteren
und neueren Gesetze an den wichtigsten Rechtsgegenständen gezeigt hat,
die darauf sich beziehenden Gesetze modifizirt werden müssen«).
216 Abbé Paul Strattmann an Ignaz von Chorinsky, undatiert, mit Randnotizen
Carl Joseph von Pratobeveras, HHStA Familienarchiv Pratobevera, Karton
8, Ziffer 34.
217 Clausdieter Schott, »Rechtsgrundsätze« und Gesetzeskorrektur. Ein Bei-
trag zur Geschichte gesetzlicher Rechtsfindungsregeln, Berlin 1975, 26-28;
Regine Ogorek, Richterkönig oder Subsumptionsautomat? Zur Justiztheo-
rie im 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2008.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513