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398 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
der Habsburgermonarchie aus einer Flurbereinigung im Bereich des
ius publicum entstand. Die Beamten im nachjosephinischen Österreich
waren davon überzeugt, dass die Patrimonialrechte der Grundherren
nicht auf souveränitätsbegründenden Ansprüchen, sondern auf privat-
rechtlichen Verträgen beruhten.227 Mit dem graduellen Verlust ihres
Souveränitätsanteils waren die Grundherren nun Kontrollverfahren
unterworfen, an deren Ausübung sie keinen Anteil mehr hatten. Aus
ständischen Gerechtsamen wurden privatrechtliche Sonderansprüche,
die quer zu jener abstrakteren, staatlich geschöpften bürgerlichen
Rechtssatzung lagen, die ja auf der Privatautonomie und allgemeinen
Rechtsfähigkeit beruhte. Öffentlich-rechtlich relevant wurden diese
grundherrlichen Ansprüche nicht mehr kraft althergebrachter Voll-
machten, die Mitbestimmungsrechte begründeten, sondern als Stör-
und Sonderfälle, die der behördlichen Aufsicht bedurften.
Für diese Aufsichtsbefugnisse bildete das bürgerliche Recht die
Hintergrundfolie. Das ABGB diente hier als Richtschnur, erinnern wir
uns an Zeillers Argument: Die einzigen Vorrechte, die das allgemeine
und gleiche bürgerliche Gesetz kenne, galten für jene Untertanen, die
»zur Handhabung der gleichen Sicherheit der Rechte vorzüglich be-
günstigt werden müssten«, da sie aus »Unbehilflichkeit« oder »Unver-
mögen« ansonsten ihre Rechte nicht wahrzunehmen vermochten.228
Diese Denkfigur wird im Vormärz auf das Verwaltungsrecht übertra-
gen, das durch »Ausgleichungsmittel« die Durchsetzung privatrecht-
licher Gleichheit garantieren sollte. Auf die Funktion der abstrakten
Privatautonomie und allgemeine Rechtsfähigkeit als Vehikel für die
marktkonforme Verwertung fortbestehender materieller Ungleichhei-
ten habe ich schon hingewiesen, eben diese Konstellation wurde hier
verhandelt: Während die Anwälte adeliger Häuser vom ABGB ausgin-
gen und die Schutz- und Aufsichtsvollmachten der Behörden als Ver-
letzungen der vollmundig proklamierten Gleichheit vor dem Gesetz
kritisierten, beanspruchte die Beamtenschaft für sich, diese postulierte
Gleichheit durch ihre Justierungsbefugnisse erst herzustellen.229
227 Vgl. Kap.V.1 und V.2.
228 Vgl. Fn. 33 oben.
229 Zu den behördlichen Kontrollrechten als »Ausgleichungsmittel« äußert sich
1844 Georg Holzgethan. Sie dienen dazu, dem Bauernstande »wegen der
obwaltenden besonderen Verhältnisse die Erlangung, Erwerbung und Si-
cherung der Rechte im Verhältnisse zu anderen Ständen auf keine beschwer-
lichere Art zugänglich zu machen«. Georg Holzgethan, Über Collisionen
bei der den Kammer-Prokuraturen obliegenden Pflicht zur gerichtlichen
Vertretung der unterthänigen Gemeinden und einzelnen Gutsunterthanen,
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513