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399Rechtsstaat
und Gewaltenteilung im Vormärz
Die Eigenständigkeit der Verwaltung war ursprünglich gegen den
ständischen Verfassungsbrauch und die ständische Rechtspflege ge-
richtet. Diese Eigenständigkeit der Verwaltung blieb weiterhin intakt,
als ihr das konstitutive Widerlager, die ständische Justiz, abhanden-
gekommen war. Sie überlebte ihren Gegenspieler. Auf dem Boden
der von ständischer Eigenmächtigkeit gesäuberten Justiz fasste eine
autonome ordentliche Kriminal- und Ziviljustiz Fuß, die wiederum
Kontrollvollmachten gegenüber der Verwaltung geltend machen sollte
und à la longue modellhaft für die transparente Ordnung von Rekurs-
und Revisionsinstanzen in der Verwaltung selbst wurde.
Dabei fällt auf: Gut ausgebaut waren gerade jene Schutzgarantien
des »Rechtsstaats«, die im älteren Gesetzesstaat wurzelten, die also
aus der Reibung landesfürstlicher und ständischer Gewalt entstanden
waren. Das heißt: Der Rechtsschutz war dort besonders ausgeprägt,
wo der Staat jener Gewalt entgegentrat, die seine Beamten als nicht-
staatlich verstanden, der Grundherrschaft nämlich.230 An diesen Naht-
stellen sollte der Bauernschutz greifen, an ihnen ließ man auch die
Kontrolle der ordentlichen Gerichte zu. Während die Rechtmäßigkeit
der grundherrschaftlichen Forderungen gegenüber den Untertanen
sehr wohl der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterlag, kam den Gerich-
ten keine Prüfbefugnis bezüglich der Anwendbarkeit von politischen
Verordnungen zu.
Die Gerichtsbarkeit sollte die Untertanen gegen die Träger der al-
ten ständischen Gewalten verteidigen, auch die kirchliche Eigenmacht
eingrenzen, aber nicht so weit aus dem Staatszielgefüge ausscheren,
dass sie die Verwaltungsgesetzgebung selbst vor ihre Tribunale gezo-
gen hätte. In diesem Sinne verteidigte Pratobevera die Vollmachten
der Verwaltung, die in einem Konglomerat von Ländern mit frag-
mentierter Souveränität die Allgemeinheit und Überpersönlichkeit
in: ZföRg (1844) 1, 129-141, 134-135. »Das Grundunterthänigkeitsver-
hältnis beruht wohl seinem letzten Grunde nach auf einem Vertrage oder
privatrechtlichen Titel […]; allein, da dasselbe zugleich mit der Bildung der
europäischen Staaten wesentlich zusammenhängt, und in volkswirthschaft-
licher und finanzieller Rücksicht einen Gegenstand vorzüglicher Beachtung
darbietet; so wird hierdurch auch das Einschreiten der politischen Behörden
im Interesse des öffentlichen Rechtes bedingt […] Die Rücksicht auf das
öffentliche Recht wird sehr oft übersehen, und doch ist sie auf die Behand-
lung des Gegenstandes von wesentlichem Einflusse, weil hier gar nichts dem
freien Verfügungsrechte und der Autonomie der Parteien anheimfällt, und
daher auch die dahin abzielenden Vorschriften von ihnen nicht willkürlich
geändert werden können«, ebda., 132.
230 Osterloh, Sonnenfels, 83.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513