Seite - 405 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Bild der Seite - 405 -
Text der Seite - 405 -
405Gesellschaftsvertrag
und Revolutionsprävention
noch selbst studiert hatten. Martinis und Zeillers Werke, so der Tenor
der Gutachten von Thomas Dolliner, Joseph Kudler, Anton Hye von
Gluneck und Sebastian Jenull, hätten sich glänzend bewährt.244 Dabei
zeigen die Gutachten aber, dass ihre Verfasser in der eigenen Lehre
vielfach schon längst, oft mit Billigung der Studienhofkommission, von
Zeillers und Martinis Kompendien abwichen, und dementsprechend
Grundfragen des Staatsrechts und der Begründung der rechtlichen
Zwangsordnung ganz unterschiedlich beantworteten. Die naturrecht-
liche Theorie über den Gesellschaftsvertrag als Ursprung des Staats
wurde von den Gutachtern zumeist gutgeheißen, allerdings bezeichnet
der Grazer Strafrechtler Sebastian Jenull die Idee als »Grille«, während
Anton Hye von Gluneck sie energisch im Sinne einer frühliberalen
Deutung des Urvertrags als Garantie für den Schutz der Bürgerrechte
verteidigte. Auch über Zeillers Trennung von Recht und Moral waren
sich die Gutachter alles andere als einig.245
244 Thomas Dolliner, Sebastian Kudler, Gemeinsames Gutachten vom
20. 9. 1831 über die Lehrbücher Zeillers und Martinis, AVA, Studienhofkom-
mission, Nr. 1.965 aus 1837, 24 C Jus: Naturrecht
– Privatrecht, abgedruckt
bei: Oberkofler, Die Verteidigung der Lehrbücher, 28-56, 35: Die Lehrbü-
cher hätten seit Jahrzehnten »ohne mindeste Gefahr für innere Ruhe des
Staates ihrem Zwecke entsprochen«; staatsgefährliche Lehren könnten sich
wohl kaum in jenen Vorlesebüchern finden, »nach welchen viele Tausende
sowohl bereits verstorbene als noch lebende und ihrem Landesfürsten mit
unverbrüchlicher Treue und Ergebenheit dienende Staatsbeamten von der
obersten bis zur niedersten, juridische Kenntnisse voraussetzenden Stuffe
bisher gebildet wurden; in Lehrbüchern verfasst von den einsichtsvollsten,
gelehrtesten und hochverdientesten Männern der Monarchie […] deren
beyde nicht nur der hohen Ehre genossen, vielen Prinzen des regierenden
Hauses Unterricht in der philosophischen Rechtsgelehrsamkeit nach eben
jenen Lehrbüchern zu ertheilen, sondern bekannter Massen auch den größ-
ten Antheil an der Verfassung der Gesetzbücher des bürgerlichen Privat-
und des Criminal-Rechtes hatten, durch welche die innere Sicherheit und
Ruhe des Staates vorzüglich begründet wird.«
245 Präsidialerinnerung v. Hofkanzler Anton Friedrich Graf Mittrowsky
11. 10. 1830, AVA, Studienhofkommission 1237/P ad Sthk Nr 5339 /1830,
[Hofrat Anton Plappart von Leenheer,] Referat Sthk, 15. 9. 1841, AVA, Sthk
Nr. 6682 /1840. Über Sebastian Jenulls kritische Lehrpraxis des natürlichen
Privatrechts von Zeiller – der Staat sei verpflichtet, nicht nur rechtswid-
rige (d. i. die Rechte anderer beeinträchtigende), sondern auch »rechtlose«
Handlungen (vernunft- und damit moralwidrige Handlungen wie »Selbtst-
mord, Selbstverstümmelung, Unzucht«) zu bestrafen und zu verhindern –
Oberkofler, Die Verteidigung der Lehrbücher, 23; Sebastian Jenull, Prome-
moria [1837] in: Gernot Oberkofler, Helmut Reinalter (Hg.), Naturrecht
und Gesellschaftsvertrag im österreichischen Vormärz. Ein »Promemoria«
von Sebastian Jenull und ein »Versuch« von Anton Freiherr von Hye-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513